Mein Leben Ohne Gestern by Lisa Genova

Mein Leben Ohne Gestern by Lisa Genova

Autor:Lisa Genova
Die sprache: deu
Format: mobi
Herausgeber: luebbe digital
veröffentlicht: 2012-09-25T11:43:46+00:00


(Arztsprechzimmer innen. Der Neurologe hat den Raum verlassen. Der Ehemann spielt mit seinem Ring. Die Frau hofft auf eine Heilung.)

JULI 2004

»John? John? Bist du zu Hause?«

Sie war sicher, dass er nicht zu Hause war, aber dieses Gefühl von Sicherheit war inzwischen zu durchlöchert, um noch dieselbe zuverlässige Bedeutung zu enthalten, die es einmal gehabt hatte. Er hatte das Haus verlassen, um irgendwohin zu gehen, aber sie konnte sich nicht mehr erinnern, wann er gegangen war oder wohin er wollte. War er nur rasch zum Geschäft gelaufen, um Milch oder Kaffee zu kaufen? War er losgegangen, um einen Film auszuleihen? In beiden Fällen würde er jeden Augenblick zurück sein. Oder war er hinauf nach Cambridge gefahren? Das würde bedeuten, dass er mindestens für ein paar Stunden und vielleicht sogar über Nacht fort sein würde. Oder hatte er letztendlich doch entschieden, dass er nicht ertragen konnte, was vor ihnen lag, und war einfach weggegangen und würde nie mehr zurückkommen? Nein, das würde er nicht tun. Da war sie sich sicher.

Ihr Haus in Chatham am Cape, erbaut im Jahr 1990, kam ihr größer, offener und weiträumiger vor als ihr Haus in Cambridge. Sie ging in die Küche. Es war eine völlig andere Küche als ihre zu Hause. Der blasse Gesamteindruck der weiß gestrichenen Wände und Küchenschränke, weißen Haushaltsgeräte, weißen Barhocker und weißen Bodenfliesen wurde von den Speckstein-Küchentresen und den kobaltblauen Spritzern auf diversen weißen Keramik- und durchsichtigen Glasbehältern nur leicht durchbrochen. Es sah aus wie eine Seite in einem Malbuch, die nur zögernd mit einem einzigen blauen Buntstift ausgemalt worden war.

Die beiden Teller und die benutzten Papierservietten auf dem Küchentisch zeugten von Salat und Spaghetti mit roter Sauce, die es zum Abendessen gegeben hatte. In einem der Gläser war noch ein Schluck Weißwein. Mit der distanzierten Neugier einer forensischen Wissenschaftlerin nahm sie das Glas in die Hand und testete die Temperatur des Weins an ihren Lippen. Er war noch immer ein bisschen kalt. Sie fühlte sich satt. Sie sah auf die Uhr. Es war kurz nach neun.

Sie waren jetzt seit einer Woche in Chatham. In den vergangenen Jahren hatte sie sich nach einer Woche fernab der Alltagssorgen von Harvard immer längst an den entspannten Lebensstil am Cape gewöhnt und sich bereits in ihr drittes oder viertes Buch vertieft. Aber dieses Jahr war es der tagtägliche Terminplan von Harvard, wenngleich dicht gefüllt und anspruchsvoll, der ihr eine Struktur bot, die vertraut und beruhigend für sie war. Besprechungen, Symposien, Kurse und Termine waren für sie wie ausgestreute Brotkrumen gewesen, die sie durch jeden Tag leiteten.

Hier in Chatham hatte sie keinen Terminplan. Sie schlief lange, aß zu unterschiedlichen Zeiten und lebte einfach in den Tag hinein. Sie beendete jeden Tag mit ihren Medikamenten, sie machte jeden Morgen ihren Schmetterlingstest, und sie ging jeden Tag mit John laufen. Aber all das bot ihr nicht genügend Struktur. Sie brauchte größere und mehr Brotkrumen.

Oft wusste sie nicht, wie spät es war, oder auch nur, welcher Tag es war. Mehr als einmal wusste sie, wenn sie sich zum Essen setzten, nicht, welche Mahlzeit sie gleich einnehmen würden.



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