Je laenger, je lieber by Hennig von Lange Alexa

Je laenger, je lieber by Hennig von Lange Alexa

Autor:Hennig von Lange, Alexa [Hennig von Lange, Alexa]
Die sprache: deu
Format: epub
veröffentlicht: 2014-11-25T16:00:00+00:00


22

Arles, 1938

An diesem Morgen war etwas anders. Jacques spürte es sofort, als ihn der Schlaf freigab und in den Tag entließ. Ohne dass er die Lider geöffnet hatte, wusste er, dass in der Nacht etwas Furchtbares passiert war. Er streckte den Arm aus und tastete neben sich das Laken ab. Seine Hand griff ins Leere. Sie war fort. Wie er es geahnt hatte. Und doch hatte er einen süßen Moment lang noch gehofft, nur schlecht geträumt zu haben.

Atemlos fuhr er auf. »Daria?« Seine Stimme klang rau, als hätte er seit Jahren nicht mehr gesprochen. Die bodenlangen Vorhänge vor den hohen Fenstern waren nicht ganz zugezogen und ließen einen schmalen, gleißenden Lichtbalken zu ihm ins Schlafzimmer, der sich wie eine silberne Schärpe über den Stuhl legte, auf dem seine Kleider hingen, und über die Waschschüssel auf der Kommode.

»Daria?« Jacques lauschte angespannt. Doch es blieb gespenstisch still. Seine entsetzliche Ahnung durfte sich nicht bewahrheiten. Mit nacktem Oberkörper und Pyjamahose sprang er aus dem Bett und eilte ans Fenster. Er riss die Vorhänge zur Seite und war für einen Moment geblendet vom Licht, das plötzlich zu ihm ins Zimmer drang. Blinzelnd blickte er hinaus in die Luft des Morgens, hinaus in den flirrenden Garten, der sich mit seinen Buchsbaumhecken, blühenden Oleanderbüschen und hintereinander gereihten Zypressen anmutig bis hinauf zu den Weinbergen erstreckte. Nirgends waren sie zu sehen. Nicht auf der Terrasse beim Frühstück, nicht auf den sandigen Wegen beim Käfereinsammeln. Auch auf der Bank vor dem Wasserspiel saßen sie nicht.

»Daria?«

Jacques stürmte aus dem Zimmer, die Treppe hinunter in die Küche. Niemand war da. Auf dem Holztisch lag ein Zettel unter dem Zuckertopf. Er überflog die Nachricht, die seine Frau ihm hinterlassen hatte. Es waren nur zwei Sätze.

Jacques, mein Treuester. Suche uns nicht. Du hast uns schon zu viele Jahre Deines Lebens und Deiner Liebe geschenkt. Geh dorthin, wohin Du gehörst. Sie wartet auf Dich. In Dankbarkeit, Daria & Pedro

Jacques fuhr herum. Wie lange waren sie schon fort? Seine Frau? Sein Sohn? Seine Familie, alles, was er hatte? Er zog die Terrassentür mit Schwung auf und stürmte barfuß hinaus in den Garten. Er rannte den sandigen Weg entlang, vorbei an den Rhododendren und den Granatapfelbüschen, an denen die reifen, knallroten Früchte hingen, vorbei am Goldfischbecken bis zum schmiedeeisernen Tor. Dahinter erstreckte sich die Platanenallee in der morgendlichen Hitze hinunter bis zur Landstraße, unerträglich leer, als wäre darauf schon ewig niemand mehr gegangen.

Wo waren sie?

Jacques’ Herz pochte. Sein Atem ging stoßweise. Seine Lippen waren trocken. Hatten sie ihn wirklich hier allein zurückgelassen, oder hing er noch immer in einem Albtraum fest? Schlafwandelte er unter dem beinahe wolkenlosen, sattblauen Himmel? Umgeben vom Zirpen der Grillen?

»Hallo!« Sein heiseres Rufen hallte über das Land. »Hallo!« Er ruckelte kräftig am eisernen Tor, um diese Hilflosigkeit aus sich herauszuschütteln. »Hallo!«

Sie hatten ihn verlassen, nicht wahr? Es kam ja keine Antwort. Warum jetzt? Was hatte er ihnen getan? Auf seinen gebräunten Armen und den Schultern bildete sich Gänsehaut. Konnte es denn nicht sein, dass er noch schlief? Würde er gleich aufwachen



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