Irmas Geheimnis by Lena Johannson

Irmas Geheimnis by Lena Johannson

Autor:Lena Johannson [Johannson, Lena]
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: Aufbau Digital
veröffentlicht: 2021-10-29T11:20:59+00:00


17

Toni

Toni klopfte das Herz so kräftig, dass sie meinte, sie könnte es noch in ihrem Hals spüren. Tausend Gedanken und noch mehr Gefühle schlugen Purzelbäume in ihrem Inneren. Wenige Tage nachdem sie sich im Gewerkschaftshaus gegenübergestanden hatten, hatte ein Brief von ihm in ihrem Kasten gelegen. Viel hatte er nicht geschrieben, genau wie damals, bevor er auf und davon gegangen war. Walter war kein Mann großer Worte, wenn es um ihn selbst ging. Nur, dass er sie sehen wollte, hatte dagestanden. Und Termin und Treffpunkt. Dass sie vielleicht schon etwas anderes vorhaben könnte, war ihm nicht in den Sinn gekommen. Keine Anschrift, wo er zu erreichen war. Sie hätte also nicht einmal absagen können. Da war sie nun. Weil es den gesamten Vormittag geregnet hatte und sie nicht mit klatschnassen Haaren und überhaupt wie so ’n begossener Pudel auftauchen wollte, hatte sie die Straßenbahn genommen und war vom Rödingsmarkt hergelaufen. Im Prachtbau der Victoria-Versicherung auf der Ecke zwischen Ellerntors- und Stadthausbrücke gab es das Restaurant Bauer, darunter die Bill-Bier-Quelle. Davor wollte er auf sie warten. Wahrscheinlich wartete sie eher auf ihn, so früh, wie sie dran war. Worüber sollten sie reden? Würden sie sich stundenlang anschweigen, krampfhaft nach einem Gesprächsfaden suchen? Walter war ihr Bruder. Genauso war er aber auch ein Fremder. Sie war ein Kind gewesen, als sie sich das letzte Mal gesehen hatten. Als sie ihm damals einen Gutenachtkuss auf die Wange gedrückt hatte, hatte sie natürlich nicht wissen können, dass sie ihn am nächsten Morgen nicht wiedersehen würde. Und auch nicht am Tag drauf und an all den anderen schrecklichen Tagen. Schon bei dem Gedanken daran machte sie unwillkürlich Fäuste. Mann, was hatte er sich bloß gedacht? Darüber mussten sie reden. Und das lag ihr bannig auf dem Magen. Sie wusste nicht, ob sie ihm verzeihen konnte. Nicht, dass sie bockig sein und ihn zappeln lassen wollte, sie konnte wirklich nicht sagen, ob sie das hinbekäme.

Um sich einigermaßen zu beruhigen, ging sie ein paar Schritte auf die andere Straßenseite. Von dort betrachtete sie das Eckgebäude der Versicherung. War schick, fast ein bisschen exotisch. Mit seinen Bögen und Türmen erinnerte es sie an Gerdas Erzählungen von diesem Harem in Ägypten. Ihre Augen blieben kurz über dem Kabelgewirr der Straßenbahn hängen, das über der Kreuzung schwebte wie die Bindfäden, mit denen sie früher mit ihren Schwestern gespielt hatte. Eine hatte angefangen und die Fäden mit den Fingern beider Hände in ein bestimmtes Muster gebracht. Die nächste griff in das Gewirr hinein und übernahm es auf die eigenen Finger, wobei sich eine neue Figur ergab. Eine einfache Beschäftigung, die nix kostete und doch immer wieder Spaß gemacht hatte. Eilig wanderte ihr Blick wieder runter zum Gehsteig, damit sie Walter bloß sah, sobald er auftauchte. Er sollte sie auf keinen Fall überraschen.

Bill-Bier-Quelle. Sie könnte jetzt ein Pils gebrauchen, obwohl es dafür eigentlich viel zu kalt und vor allem zu früh war. Jeder will noch ein Bill, fiel ihr plötzlich ein. Hatte sie mal auf einem Bierdeckel gelesen. Ihr war schlecht. Sie hätte nix essen sollen, ehe sie sich auf den Weg gemacht hatte.



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