In Zeiten des abnehmenden Lichts by Eugen Ruge

In Zeiten des abnehmenden Lichts by Eugen Ruge

Autor:Eugen Ruge
Die sprache: de
Format: mobi
Tags: Belletristik/Gegenwartsliteratur (ab 1945)
Herausgeber: rowohlt
veröffentlicht: 2011-09-21T06:14:41+00:00


Nachdem er sich umgezogen hatte (er nahm es als gutes Zeichen, dass seine Klamotten noch immer hier, in der Gutenbergstraße, waren), fuhren sie mit der Bahn nach Neuendorf und statteten seinen Eltern einen Besuch ab. Irina, ein bisschen enttäuscht darüber, dass sie den Abend nicht bleiben, sondern noch auf den sogenannten Berg wollten (das heißt, Christina wollte auf den Berg, Alexander hätte sich lieber einen gemütlichen Abend mit Christina gemacht, nahm es aber wiederum als gutes Zeichen, dass sie unbedingt tanzen gehen wollte: Sie sitze, so sagte sie, schon seit zwei Monaten allein in der Bude) – Irina also improvisierte ein «kleines» Abendbrot. Man aß zusammen, das heißt, eigentlich aß nur Alexander: Irina, obgleich sie sich immer beschwerte, dass sie nie etwas mitbekam, verschwand gleich wieder in der Küche, um nur hin und wieder, Zigaretten rauchend, hereinzurauschen und kryptische Kommentare abzugeben; Kurt war es zum Abendessen noch zu früh (du weißt doch, mein Magen!), und Christina stocherte ein bisschen in der Zwiebelsuppe, die Irina rasch gezaubert hatte – und nur Alexander, der außer einem Mortadellabrötchen nichts im Magen hatte, aß, stopfte geräucherte Schweinefilets und bulgarischen Käse in sich hinein, aß schließlich noch Christinas Zwiebelsuppe auf, während er dem Tischgespräch lauschte, das zwischen verschiedenen Themen mäanderte und, ausgehend vom allgegenwärtigen Mangel in der DDR, in diesem Falle dem Mangel an Zwiebeln, auf die Erdölkrise im Westen kam (wo, Gott sei Dank, auch nicht alles klappte) und von dort über den Jom-Kippur-Krieg und die ehemaligen Nazis in Nassers Armee zum «Krieg der Geschlechter» sprang (einem Film, der kürzlich im Westfernsehen gelaufen war), um dann doch wieder in die real existierende Welt zurückzuspringen, nämlich zu Christinas Bibliothek (wo man einen chilenischen Exilanten eingestellt hatte, der bei der Ermordung Victor Jaras dabei gewesen war) und schließlich, nach den unvermeidlichen Klagen über die Dummheit der Leser, zu irgendeinem politischen Handbuch, über das Christina und Kurt sich einvernehmlich amüsierten, weil der Name von Honeckers Vorgänger in der Neuauflage vollständig eliminiert worden war, nachdem er ursprünglich auf beinahe jeder Seite gestanden hatte. Wie bei George Orwell, bemerkte Christina, die gerade George Orwell las, und als sie das sagte, verzog sich ihr Mund oder, genauer gesagt, eine Seite ihres Mundes, und zwar so, dass der Mundwinkel (und nur der Mundwinkel) zu einer fast beide Zahnreihen entblößenden Öffnung aufklaffte, was ihr einen ironischen, kalten Ausdruck verlieh – wie immer, wenn sie über Bücher sprach, die Alexander nicht kannte. Dann stellte man fest, dass man sich bereits verquatscht hatte, Irina spendierte – Ausnahme Weise – ein Taxi, und erst als das Taxi schon da war, als Christina und Alexander die Steintreppe hinabstiegen und Irina und Kurt, einander umarmend, auf der Empore vor der Haustür standen und ihnen mit dem jeweils äußeren, freien Arm hinterherwinkten – da erst fiel ihnen Wilhelm ein, und man verabredete, dass die Eltern sie, zusammen mit Oma Charlotte, morgen gegen elf Uhr zum Besuch im Krankenhaus abholen würden.

– Ach, und zieh doch die Uniform an, rief Kurt Alexander noch hinterher.

Alexander blieb stehen.

– Uniform?

– Na ja, Wilhelm möchte das gern.



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