Im Zeichen der Finsternis by Agresti Aimee

Im Zeichen der Finsternis by Agresti Aimee

Autor:Agresti, Aimee
Die sprache: eng
Format: epub
Herausgeber: Goldmann
veröffentlicht: 2015-05-19T16:00:00+00:00


18

Schließ den Kreis

Ich wollte schreien, fand meine Stimme aber nicht wieder. Mein anderes Ich lag neben mir am Boden und sah mich aus meinen eigenen Augen an. Die waren weit aufgerissen und starrten mich, ohne zu blinzeln, hilflos an. Der Schock trieb mich auf die Beine. Aber die Atmosphäre um mich herum war ebenso erschütternd: Sirenen in der Ferne und ein gnadenloses Prasseln über mir, das ich nicht einordnen konnte. Als ich hinaufsah, entdeckte ich den Grund: Der Himmel stand in Flammen.

Dröhnend loderte das Feuer und bildete damit den Hintergrundrhythmus für die Melodie der Schreie, der endlosen Schreie. Die ganze Stadt schien wehzuklagen. Es sah aus wie auf einem Schlachtfeld, Feuersäulen schossen in die Luft, überall lagen reglose Körper, und dunkle Kreaturen schossen vorbei, grotesk verzerrte Dämonen, die einander gegenseitig jagten. Erhellt wurde die Szenerie allein durch den Schein des Feuers, sonst gab es in der ganzen Stadt kein Licht, nur dichte Finsternis, die alles in der Farbe von Tod und Sterben einhüllte. Ich trat einen Schritt zurück und geriet ins Straucheln, fing mich aber wieder. Der Fluss. Wir befanden uns am Ufer der Seine.

Die Version von mir am Boden wand sich vor Schmerzen, und jetzt fiel mir auf, dass sie Flügel trug, die so groß wie sie selbst waren. Normalerweise sollten sie wohl makellos weiß sein, jetzt spiegelte sich darin jedoch das Glühen der Flammen. Sie waren zerfetzt und zerbrochen, Teile davon standen hier und da in seltsamen Winkeln ab. Stellenweise fehlten sogar Stücke. Nun kniete ich mich über mich. Ich wusste, dass ich mir da gerade selbst beim Sterben zusah, und wollte so verzweifelt irgendetwas tun, um mich zu retten. Neben ihr, neben mir, sah ich etwas glitzern: Jemand hatte ihr die Halskette heruntergerissen, und die drei Anhänger lagen verstreut da. Das junge Mädchen am Boden sah mir in die Augen, nahm alle Kraft zusammen und flüsterte etwas unter größter Anstrengung. »Lass das nicht geschehen«, sagte sie zu mir, sagte ich zu mir. Blut quoll ihr aus dem Mund, als sie sprach: »Schließ den Kreis … Und leg dir eine Strategie zurecht … die dich … hier wegführen wird.« Sie musste so sehr mit sich kämpfen, dass sie nach ein paar Worten innehielt. »Bitte …«, stieß sie nun noch hervor. Dann wurde ihr Blick glasig. Ich richtete mich auf, wich instinktiv ein paar Schritte zurück und fiel die Uferböschung hinunter. Mit zitternden Händen griff ich nach der Uhr wie nach einem Rettungsring, und anstatt auf dem Wasser aufzuschlagen, wurde ich wieder fortgerissen.

Dieses Mal kam es mir vor wie Fallschirmspringen, der Wind begleitete meinen freien Fall. Und dann prallte ich unsanft auf kalte, harte, beinahe gefrorene Erde. Ich landete auf dem Rücken, rollte mich auf die Seite und schob mich in dem Moment hoch, als Sirenen die Luft zerrissen und Autos zur Seite fuhren, um das Rettungsfahrzeug vorbeizulassen. Ich hörte Schritte auf dem Asphalt des Lake Shore Drive, und Sanitäter hievten eine Krankentrage heraus. Dann erklang eine Stimme direkt unter mir, hoch und sanft: »Es wird alles gut«, sagte die Stimme, sagte ich, ganz ruhig.



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