Identität by Francis Fukuyama
Autor:Francis Fukuyama [Fukuyama, Francis]
Die sprache: deu
Format: epub
ISBN: 9783455005295
Herausgeber: Hoffmann und Campe
Besonders aufschlussreich an Kings Statement ist der Umstand, dass er die Studienplanänderung ganz und gar psychologisch rechtfertigt: Der gegenwärtige Lehrkanon zermalme die Psyche von Minderheiten und Studentinnen und »kränkt Menschen geistig und emotional auf eine Art, die nicht einmal wahrgenommen wird«. Eine längere Leseliste würde nicht zwangsläufig wertvolle oder zeitlose, pädagogisch wichtige Kenntnisse vermitteln, doch sie würde die Selbstachtung und das Wohlgefühl ausgegrenzter Studenten heben.[87]
Das therapeutische Modell ging direkt aus zeitgenössischen Identitätsbegriffen hervor. Es postulierte, dass wir tiefe innere Räume besitzen, deren Potenzial nicht verwirklicht wird, weil die externe Gesellschaft uns durch ihre Vorschriften, Rollen und Erwartungen zurückhält. Eine individuelle Auslotung jener inneren Räume sei erforderlich, um uns von den hemmenden Vorschriften zu befreien. Allerdings ist der Therapeut nicht sehr interessiert am substanziellen Gehalt unseres Inneren oder an der abstrakten Frage, ob die Gesellschaft gerecht oder ungerecht ist. Ihm geht es nur darum, das Selbstwertgefühl und damit das Wohlbefinden seiner Patienten zu steigern.
Der Aufstieg des therapeutischen Modells trug in fortgeschrittenen liberalen Demokratien zur Geburt der heutigen Identitätspolitik bei. Diese stellt sich überall als Ringen um die Anerkennung von Würde dar. Liberale Demokratien setzen den einheitlichen Respekt vor der Würde jedes Bürgers als Individuum voraus. Mit der Zeit hat sich die Sphäre der gleichwertigen Anerkennung sowohl quantitativ, also in Bezug auf die Anzahl der Menschen, denen die gleichen Rechte zugestanden werden, wie qualitativ ausgeweitet, also im Hinblick auf das sich entwickelnde Verständnis der Anerkennung, das nicht nur formelle Rechte, sondern auch substanzielle Selbstachtung umfasst.
Die Würde machte in dieser Zeit einen Demokratisierungsprozess durch. Aber die Identitätspolitik der liberalen Demokratien näherte sich erneut kollektiven und illiberalen Begriffen wie denen der Nation und der Religion an, da Bürger über die Anerkennung ihrer Individualität hinaus die Anerkennung ihrer Gleichheit mit anderen begehrten.
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