Harte Schule by Christine Lehmann

Harte Schule by Christine Lehmann

Autor:Christine Lehmann
Die sprache: de
Format: mobi
veröffentlicht: 2012-01-18T23:00:00+00:00


14

Ich stellte Brontë ans Eck der Rotdornstraße. So konnte ich die Straße überblicken, ohne gleich gesehen zu werden. Wenn einem kalt ist, soll man nicht rauchen, aber Drogen aller Art helfen gegen Schmerzen. Dann kotzte mich der kalte Rauch im Wagen an, und ich kurbelte das Seitenfenster runter. So würde ich es keine Viertelstunde aushalten. Brontës Uhr am spartanischen Armaturenbrett zeigte zehn vor elf.

Ich betrachtete den Verband und stellte mir Margots Knochenhand vor, wie sie den Stichel an ein Stückchen Marmor setzte und mit dem Klöppel tiefe Furchen, Löcher und Grübchen schlug. Splitter spratzten, sandkornklein, herausgeschlagen aus dem Stein mit stählernen Nadeln, getrieben von schaffenswütiger Hand.

Außerdem besaß sie als Turnlehrerin einen Schlüssel zum hinteren Schulhof. Ich stellte mir die Physiksammlung vor mit der kleinen windschiefen Frau Schneider und ihren Schubladen voller metallenem Zeug, spitz, lang, nadelartig. Die Strommarke auf meiner Fingerkuppe war zwar nicht mehr zu sehen, aber noch zu ertasten. Auch Schneider hatte einen Schlüssel. An meinem Hinterkopf schwelte außerdem die Stelle, an der mich Isoldes Parfümfläschchen getroffen hatte. Alles Beweise, dass ich in meiner Kindheit von meinem Vater, oder besser von meiner Mutter missbraucht worden war.

Eine kaum merkliche Veränderung der Lichtverhältnisse in der Rotdornstraße lenkte mich von meiner Bewusstseinsdämmerung ab. Brontës Uhr war eine halbe Stunde weitergesprungen. Licht fiel auf den Fußweg drei Häuser weiter unten. Ein Mann in Trenchcoat mit Schulterklappen blickte kurz links und rechts und wandte sich dann abwärts. Ich wartete, bis er um die Ecke gebogen war, und startete Brontë. Richard schritt auf dem linken Gehsteig das Königssträßle entlang, rechter Hand die Sportplätze unterm Fernsehturm. Wenn er mit dem Königssträßle die Jahnstraße erreicht und überquert hatte, lag der direkte Weg zum Haigst hinab vor ihm, eine gruseldunkle, steile Waldstraße. Ich fuhr Brontë an den Randstein, stellte die Scheinwerfer aus und zählte langsam auf hundert: hundert Schritte, hundert Meter, Jahnstraße, Wald. Es ist nicht wahr, dass Männer keine Angst haben, wenn sie nachts allein durch den Wald müssen. Als ich vorgefahren kam, stand Richard wartend an der Ecke. Ich trat auf die Bremse. Er kam über die Straße und langte nach dem Türgriff.

»Rutsch rüber, ich fahre.«

Ich hatte meine Beine kaum über den Schaltknüppel auf die Beifahrerseite gewürgt, da saß er schon und griff Brontë ins Lenkrad. Die Gänge knirschten. Brontë muckte. Männer in fremden Autos! Meines hatte weder Servolenkung noch ABS. Bäume sprangen in die Scheinwerfer. Richard bekam Brontë nur knapp um die Kurve in die Jahnstraße.

»Ein bisschen bockig, die Dame.«

»Dein Schicksal«, sagte ich.

Er lachte leise und häkelte sich durch die Gänge. »Weißt du, warum Elsäßer auf deine Schwulenclub-Story nicht anspringt? Er glaubt, du hast sie aus zweiter Hand. Er hält es für ausgeschlossen, dass sie dich in so einen Club reinlassen. Außerdem hat Margot ein deutliches Urteil über dich gesprochen: infantile Emotionalität mit querulatorischen Zügen, reduzierter Rationalität und ungenügender Ausformung der Persönlichkeit, deren Folge Hilflosigkeit ist, die sich hinter Trotz und Arroganz versteckt, begleitet von starker Anlehnungsbedürftigkeit und einer verantwortungslosen Einstellung zum Beruf …« Er holte Luft. »… der Neigung zum Tagtraum, abenteuerlichem Verhalten und Sich-Hineinreden in selbstüberhöhende Rollen.



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