Geschichten aus der Heimat by Dmitry Glukhovsky

Autor:Dmitry Glukhovsky [Dmitry Glukhovsky]
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: Heyne Verlag
veröffentlicht: 2022-11-21T00:00:00+00:00

Appell

»So, mein Junge!«, knurrte die Tonne mit dem violetten Haar bedrohlich. »Lauf zu deinen neuen Freunden!«

Wanja schaute finster zu diesen erbärmlichen neuen Freunden hinüber. Ein Junge drosch gerade mit einem hölzernen Kochlöffel auf einen anderen ein, der dritte aß mit äußerster Konzentration und entrücktem Blick grauen Straßenstaub, den er in kleinen Mengen vom Boden aufsammelte.

»Mama«, sagte Wanja ganz leise, damit die neben ihm dräuende violette Megäre es nicht hörte, »lass mich nicht hier, Mama!«

»Jetzt hab dich nicht so!« Die Mutter lächelte Wanja aufmunternd, aber auch ein wenig mitleidig an. »Du bist doch schon ein richtiger kleiner Mann. Ganze drei Jahre bist du inzwischen. Da wird es Zeit, dass du deinen Dienst antrittst. Genau wie Papa und ich. Und dein Dienst ist dieser Kindergarten.«

»Mama«, hauchte Wanja verzweifelt und krallte sich an ihrem Kleid fest. »Könnte ich nicht gleich in Rente gehen? Wie Oma? Oder in Urlaub? Kann nicht heute für mich Sonntag sein? Dann kommen wir morgen wieder her … Alles, nur nicht heute!«

»Aber, aber!«, murmelte die Erzieherin und schüttelte tadelnd die violette Mähne. »Ein so großer Junge, und benimmt sich wie ein kleines Kind! Sie können ruhig gehen, Anna Petrowna. Machen Sie sich keine Sorgen. Wir sind eine staatliche Einrichtung, Wanetschka wird es bei uns gefallen.«

In dem Moment gab der Junge, der bisher phlegmatisch Staub gefuttert hatte, einen Schrei von sich, der alles ringsum gefrieren ließ, schoss hoch und fegte in schwindelerregendem Tempo vor dem Haus hin und her.

»Äh …«, brachte Wanjas Mutter heraus.

»Wir haben hier alle unseren Spaß«, erklärte die Erzieherin im kategorischen Ton des Sowjetischen Informationsbüros. »Gehen Sie nur!«

»Hab keine Angst!«, schärfte Wanjas Mutter ihm etwas unsicher ein. »Und soll ich dir verraten, was heute Abend auf dich wartet? Ein leckerer Kuchen mit Marmeladenfüllung!«

Mit diesen Worten ging sie. Wanja blieb an der Pforte zurück, niedergedrückt von der Schwere seiner Jahre und gebeutelt von den Wendungen, die das Leben für einen richtigen Mann bereithielt. Zum ersten Mal wollte er keinen Kuchen mit Marmeladenfüllung, sondern wünschte sich nur, möglichst schnell wieder abgeholt zu werden.

Doch schon fasste ihn diese violette Megäre bei der Hand und zog ihn vom Zaun weg, um ihn kopfüber in ein neues Leben zu stürzen.

Der Kindergarten war ganz anders als sein Zuhause: Laken kratzten, das Essen war wässrig, die Erwachsenen waren eiskalt.

Am erstaunlichsten waren jedoch die Gerüche. Noch nie zuvor hatte er so etwas gerochen. Bereits an der Tür bombardierte der Kindergarten Wanja mit diesen unbekannten, scharfen und vielschichtigen Düften, mit denen er die Jungen fest an sich band. Ob diese Gerüche angenehm waren oder nicht, wusste Wanja beim besten Willen nicht zu sagen. Der Kindergarten roch halt so.

Nach einem grauenvollen Tag, der überhaupt kein Ende nehmen wollte, holte ihn seine Mama ab. Zu Hause wartete der Kuchen mit Marmeladenfüllung auf ihn. Am nächsten Tag brachte man ihn jedoch wieder in diesen Kindergarten, und einen weiteren Kuchen gab es nicht. Das Initiationsritual war vollzogen, es folgte die Routine des täglichen Dienstes.

Der schüchterne Stubenhocker Wanja fand sich nach und nach mit seinen unvermeidlichen, unzurechnungsfähigen Altersgenossen ab, lernte, die

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