Geheimnis der Gezeiten by Richell Hannah

Geheimnis der Gezeiten by Richell Hannah

Autor:Richell, Hannah
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: Diana
veröffentlicht: 2012-10-20T16:00:00+00:00


Cassie

Zehn Jahre zuvor

Cassie saß umgeben von Mitschriften auf ihrem Bett. Sie musste eigentlich für Geschichte lernen, aber ihr Gehirn fühlte sich an wie Brei, und sie konnte nur noch an die kleine Schmetterlingsbrosche denken, die ganz hinten in der Schublade ihres Nachtkästchens lag. Ein Jucken ergriff von ihr Besitz, das sie nicht ignorieren konnte.

Sie schob ihre Unterlagen beiseite, streckte den Arm aus und zog den mit Diamanten besetzten Perlmuttschmuck aus der Schublade. Immer wieder drehte sie ihn in ihrer Hand hin und her. Er war so hübsch, schimmerte in sanften Pastellfarben, sogar im Licht dieses verregneten Nachmittags. Sie sah ihn sich eine Weile an, bevor sie die Nadel löste und mit den Fingerkuppen prüfte, wie spitz sie war. Das sollte genügen.

Sie streifte den Pulloverärmel hoch und drückte die Nadelspitze in ihre blasse Armbeuge, dort, wo die Haut am empfindlichsten war und sie die Folgen verbergen konnte. Dann hielt sie die Luft an und drückte zu, zuckte zusammen, als das Metall sich in ihre Haut bohrte. Rubinrotes Blut schoss neben der Nadel hervor, und während sie zusah, wie sich Tropfen bildeten und herausperlten, fuhr sie mit dem Dorn einmal über den Unterarm, wobei sie heftig ausatmete. Sie wiederholte die Aktion mehrmals und sah zufrieden zu, wie sich Schrammen kreuz und quer über ihre Haut zogen und warmes Blut ihre Arme herabrann. Als ihr ein wenig schwindelig wurde, ließ sie sich rücklings aufs Bett fallen und vom Schmerz überwältigen. Es tat gut, etwas zu spüren.

Als das Stechen langsam einem dumpfen Schmerz wich, kehrte Cassie in die Gegenwart zurück. Sie nahm ihre Umgebung wieder wahr und blieb noch eine Weile liegen, während sie darüber nachdachte, wie beschissen ihr Leben war. Nicht nur wegen des Tanzes im Rugby Club am Wochenende, als Rebecca mit Charlie Simpson abgezogen war. Nicht nur wegen ihrer Mutter, die ihr verbot, sich vor dem Abitur den Bauchnabel piercen zu lassen. Nicht nur wegen Doras lauter stampfender Popmusik, die verhinderte, dass sie sich auf ihren Geschichtsstoff konzentrieren konnte. Nicht nur wegen des Dauerregens, der sie wieder mal ans Haus fesselte. Nein, ihr Leben insgesamt war einfach total beschissen.

Sie drückte ein Taschentuch auf ihren blutigen Arm und hämmerte dann mit den Händen gegen die Wand. »Mach das gefälligst leiser.«

Doras neuester Lieblingssong wurde ein, zwei Dezibel leiser, bis sie nur noch ein dumpfes, unverständliches Dröhnen hörte. Das half, aber Cassie konnte sich trotzdem nicht konzentrieren. Die Reformation war so was von langweilig, und da Dora sich glücklicherweise auf ihr Zimmer zurückgezogen hatte, übte das Erdgeschoss einen unwiderstehlichen Sog auf sie aus. Ihre Mutter war vor über einer Stunde gegangen. Violet war für ein paar Tage zu Besuch, und die beiden Frauen waren in ihrem kleinen verbeulten Auto auf einen Bauernmarkt gefahren. Richard befand sich in der Arbeit. Das einzig wahrnehmbare Geräusch war das Brummen einer Motorsäge in der Ferne. Wahrscheinlich arbeitete Bill irgendwo im Garten. Das Haus gehörte ihr allein.

Sie zog den Ärmel über die Wunde, legte die Brosche zurück in ihr Versteck und ging auf Zehenspitzen an Doras Zimmer vorbei, bevor sie zum Gästezimmer lief, in dem Violet ihre Zelte aufgeschlagen hatte.



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