Ernestam, Maria by verborgene Haus Das

Ernestam, Maria by verborgene Haus Das

Autor:verborgene Haus Das
Die sprache: de
Format: mobi
veröffentlicht: 2012-04-27T20:39:59+00:00


Das barmherzige Bild

Immer noch kein Regen. Dieselbe unbarmherzige Trockenheit, dieselbe gleißende Sonne, die sich bereits am Morgen durch die Gardinen zwängte. Am Tag zuvor hatten sie davon gesprochen, wie wichtig Niederschläge für den Garten seien. Heute erschien das noch wichtiger.

Die Kinder in der Schule hingen wie welke Blumen über ihren Büchern. Hong war nach dem Unterricht zu ihr gekommen und hatte sich darüber beklagt, dass es keinen Regen gab. Marit hatte geantwortet, dass Dinge manchmal einen Sinn hätten, den man nicht verstehe. Aber die Erde unter ihren Füßen war rissig, und während sie sprach, hatte sie das Gefühl, ihr Mund sei voller Sand. Einem Kind etwas Unerklärliches zu erklären war ebenso schwer, wie den Chinesen verständlich zu machen, dass es keinen Sinn gab, auf die Hilfe toter Verwandter zu hoffen, und dass sie die Kerzen, die vor ihren Bildern angezündet wurden, nicht mehr sehen konnten.

Hong hatte sich ihr klebriges Haar aus der Stirn gestrichen. Es war gerade und glatt, ganz anders als ihr eigenes. Mit demselben Erstaunen, mit dem die chinesischen Kinder ihr blondes Haar betrachteten, starrten die chinesischen Frauen auf ihre flachen, bequemen Halbschuhe. Einige von ihnen saßen fast die ganze Zeit auf ihren Hockern, da sie kaum in der Lage waren, mit den deformierten Klumpen aus Fleisch und Nägeln, die in entzückenden bestickten Pantoffeln steckten, richtig aufzutreten. Marits eigene Füße waren im Vergleich dazu riesig und sahen geradezu grotesk aus. Aber sie konnte mit ihnen gehen.

Einige Veränderungen hatten sie zumindest bewirkt. In manchen Dörfern wurden die Füße nicht mehr abgebunden, die Jungen lasen in der Missionsschule nicht mehr nur die Schriften des Konfuzius, und auch die Mädchen durften etwas lernen. Wenn man sich nicht auf diese Weise tröstete, wirkte die Anzahl bekennender chinesischer Christen allzu niederschmetternd. Es waren nur einige tausend bei einer Bevölkerung von mehreren hundert Millionen, deren größter Teil von Armut und Not gequält wurde.

Es klopfte an der Tür, und Liu trat mit Tee, gezuckerten Kiefernsamen, Mandarinen und Bananen ein. Marit bedankte sich. Ihr standen die Schweißperlen, die salzigen Tränen dieses Landes, auf der Stirn, obwohl sie sich gerade erst das Gesicht gewaschen hatte. Liu erkundigte sich nach dem Kinderheim und dem Krankenhaus und bemühte sich, langsam und deutlich zu sprechen.

Es hatte lange gedauert, auch nur einen Bruchteil dieser Sprache zu verstehen, die so viele Nuancen besaß. Ganz zu schweigen von den Schriftzeichen, die ganze Geschichten enthielten und nicht nur einzelne Laute symbolisierten wie in ihrer Muttersprache. Aber es hatten sich viele Türen geöffnet, als sie mit den Menschen, denen sie begegnete, endlich sprechen konnte. Sie begriffen, dass Marit etwas um ihretwillen gelernt hatte, damit sie von ihr lernen konnten.

Marit trat auf die Treppe, die von ihrem Schlafzimmer im zweiten Stock hinunterführte. Eine Jakobsleiter, aber ohne weiche Wolken, die einen auffingen, stattdessen scharfkantig und metallen. Sie schlängelte sich wie die Schlange am Baum der Erkenntnis an der Hauswand hinab.

Etliche Male, als ihr die Arbeit übermächtig vorgekommen war und sie den Gestank der Armenviertel noch in der Nase wahrnahm, hatte sie geträumt, auf der Treppe den Halt zu verlieren, zu stürzen und mit einem dumpfen Knall auf der Erde aufzuprallen.



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