Ehre by Shafak E

Ehre by Shafak E

Autor:Shafak, E
Die sprache: deu
Format: epub, mobi
Tags: Elif Shafak, England, London, Türkei, Ehe, Familie, Liebe, Ehre, Geschwister, Verrat, Hoffnung, Katastrophe, Familienepos
veröffentlicht: 2013-12-11T05:00:00+00:00


Die Bernsteingelbe Konkubine

EINE HÜTTE IN DER NÄHE DES EUPHRAT, APRIL 1978

Jamila zerstieß mit dem Stößel den rubinroten Safran im Mörser. Es waren die letzten Fäden, und sie wusste nicht, wann Nachschub kommen würde. Auch manch anderes ging allmählich zur Neige. Majoran, Estragon, Gänsefingerkraut, Teufelskralle. Sie würde mehrmals in die Berge gehen und auch die Schmuggler aufsuchen müssen. Doch in letzter Zeit war ihr immer weniger danach, das Haus zu verlassen, außer in Notfällen oder um eine Frau zu entbinden, was eigentlich auf dasselbe hinauslief.

Sie war den ganzen Vormittag im Keller gewesen, hatte gearbeitet und nachgedacht. Dieser düstere, feuchtkalte Raum, zwanzig Quadratmeter groß und fensterlos, zugänglich nur durch eine kleine Falltür und über eine Leiter, war ihr Heiligtum, ihr Zufluchtsort. An den Wänden standen Holzregale, die vom Boden bis zur Decke reichten und Tiegel, Flakons und Flaschen in verschiedenen Größen und Farben enthielten. Wildkräuter, Baumrinden, Duftöle, Samen, Gewürze, Mineralien, Schlangenhäute, Tierhörner, getrocknete Insekten – Hunderte von Stoffen, die sie für ihre Tränke und Wundsalben verwendete. Durch vier in verschiedenen Winkeln angebrachte Löcher, kleiner als die Öffnungen zu Maulwurfsgängen, wurde der stille Raum belüftet. Dennoch roch es stark und durchdringend nach Erde, was Jamila allerdings längst nicht mehr wahrnahm. Jedem Fremdem aber wäre von dem erdrückenden Geruch schwindlig geworden. Dass jemals ein anderer Mensch als Jamila diesen Raum betreten würde, war jedoch unwahrscheinlich. Niemand war dort je gewesen, und auch in Zukunft würde ihn niemand außer ihr betreten.

In den vergangenen fünfzehn Jahren hatte sie sich täglich mindestens einige Stunden lang im Keller aufgehalten und das zusammengebraut, was jederzeit erforderlich sein konnte, sobald es an ihre Tür klopfte. Sie war die Heilerin. Die Jungfräuliche Hebamme, die die Sprache der Vögel, Reptilien und Insekten verstand. Enkeltochter des Propheten Sulaiman wurde sie von den Einheimischen genannt, und auch deshalb hatte sie ganz allein in der Wildnis überleben können. Sie respektierten, fürchteten und verachteten sie. Als Folge ließen sie sie in Ruhe – die Frau, die keine Frau war, die Hexe, die auf dem schmalen Grat zwischen zwei Welten balancierte.

In ihrem Keller trat Jamila aus ihrem Körper heraus und wurde zur Mittlerin einer geheimnisvollen, das Universum durchströmenden, heilenden, bessernden, mehrenden Energie. Dort unten gebar sie ihren eigenen Schoß, und dieser Schoß breitete sich aus und umhüllte die ganze natürliche Welt um sie herum, eine Höhle der Wärme und der Anteilnahme, in der sie freudig jedes Selbstgefühl verlor. Sie konnte dann nicht mehr sagen, ob es Tag oder Nacht war. Aber es spielte auch keine Rolle. Sie lebte in diesen Momenten außerhalb der Uhrzeit, in ihrem eigenen Kosmos. An manchen Tagen arbeitete sie dort von morgens bis in die Nacht, wandte jahrhundertealte Rezepturen an und experimentierte mit neuen. Nie wurde es eintönig. Es konnte anstrengend sein, langweilig nie. Jede Blume, jedes Mineral enthielt ein heiliges Geheimnis, das ihm von Gott verliehen war. Die Menschen übersahen das oft. Sie betrachteten einen Mistelzweig und erkannten darin nur eine an Baumstämmen wachsende Schmarotzerpflanze, nicht aber die kreislaufstärkende Salbe, die man aus ihr herstellen konnte. Vertrauen zu gewinnen, das war Jamila wichtig.



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