Dunkle Reflexionen by Delany Samuel R

Autor:Delany, Samuel R. [Delany, Samuel R.]
Die sprache: deu
Format: epub
veröffentlicht: 2014-12-12T05:00:00+00:00

»LIEBER ARNOLD« stand in Großbuchstaben am Anfang. Ohne irgendwelche Absätze folgte ein Text, der sich fast randlos über die ganze Seite zog. »Ich schreibe dies um drei Uhr nachts vor unserem Hochzeitstag.«

Arnold sah hoch zu Sara-Alice Logan. Er sah nach unten auf seine abgewetzte Couch mit ihren Pfannkuchenkissen. Er sah auf den Brief.

... vor unserem Hochzeitstag. Ich frage mich, ob wir wirklich heiraten werden. Wahrscheinlich sagst du mir morgen früh, dass das eine Scheißidee war und dass ich mich verpissen soll. Dann werde ich mich verdrücken und lasse dir vielleicht diesen Brief zurück. Aber vielleicht, ganz vielleicht ziehen wir’s ja wirklich durch. Und damit würdest du mich sehr glücklich machen, ich werde so froh sein, wenn ich es endlich auf die richtige Art und Weise zu Ende bringen kann. Ich bin nicht verrückt, weißt du. Na ja, vielleicht schon.

Du wirst am Anfang sehr wütend auf mich sein. Ich erinnere mich jedenfalls, dass ich sehr wütend auf Jane war (meine älteste Schwester), als sie es getan hat und ich nachher alles sauber machen musste, weil meine durchgeknallte Mutter zu aufgebracht war, um den verdammten Küchenboden zu wischen. (Jane hat es in der Küche getan, natürlich als ich mit Ellen und meiner Mutter im Kino war.) Oder an die ersten drei Versuche von Tante Ruthie. Ich hoffe, es gelingt mir beim ersten Mal, weil ein Versuch, der nicht klappt, echt eine viel größere Schweinerei ist. Und dann erst der ganze Nachklapp in den darauf folgenden Wochen: die Krankenhausbesuche und die Sozialarbeiter, die Therapie und die Psychiatrie. Und alle fragen immer: Warum nur? (Warum? Ha!) Oh, das habe ich vergessen zu erwähnen: Meine Mom sagte, als ich sie letzte Woche angerufen hab, dass Tante Ruthie es schon wieder versucht hat. Hey, du wirst nur einen Tag dein Badezimmer schrubben müssen, und das war’s dann. In deiner Erinnerung werde ich lediglich das schräge Mädchen sein, das sich in deinem Badezimmer die Pulsadern aufgeschnitten hat. Die, von der du noch nicht mal wusstest, dass sie scheißverrückt war. Dass sie drei Jahre im Scheißirrenhaus verbracht hat. Dass sie scheißschwanger war. Und die nicht mal weiß, ob Tony der Vater ist oder dieser scheiß Zivilbulle, der mich in dem scheiß Treppenhaus auf der scheiß Second Street vor drei Monaten vergewaltigt hat. Keinem von beiden werde ich die Scheißgenugtuung gönnen, ein verdammtes Kind in die Welt zu setzen. Ich werde es töten, töten, töten. Aber weil Abtreibung nun mal scheißfalsch ist und meine verrückte Scheißmutter ausrasten würde, muss ich mich wohl selbst umbringen, oder? Und jetzt fang nicht an, mit mir darüber zu diskutieren. Ich hab jetzt immerhin einen Grund, den zumindest ein paar Leute verstehen. Eigentlich läuft alles schon seit Jahren darauf zu, deshalb haben die mich damals auch nach Wingdale verfrachtet.

An Jane und Ellen (meine andere Schwester) denke ich nicht so oft, und auch nicht an Kimmy. Hinter allen drei musste ich nachher sauber machen. Kimmy war meine erste Zimmergenossin in Wingdale. Sie war schwarz, und wir haben eigentlich die ganze Zeit davon geredet, es zusammen zu tun.

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