Die Zeugin by Sandra Brown

Die Zeugin by Sandra Brown

Autor:Sandra Brown [Brown, Sandra]
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: E Books der Verlagsgruppe Random House
veröffentlicht: 2013-01-31T23:00:00+00:00


23. Kapitel

Der junge Mann war nackt.

Wo eigentlich seine Genitalien sein sollten, sprudelte dunkles, rotes Blut. Sein Kopf baumelte leblos auf der schmalen Brust. Er war entweder tot oder bewußtlos.

Kendall war zu entsetzt, um zu schreien. In stummem Grauen beobachtete sie, wie einer der Männer eine Räuberleiter für Mr. Johnsons Fuß formte und ihn hochhob. Sobald Mr. Johnson auf Augenhöhe mit Michael Li war, packte er den Jungen am Schopf, zog den Kopf zurück, zwang seinen Mund auf und stopfte etwas hinein. Kendall konnte sich nur zu gut vorstellen, was.

Als Johnson wieder auf dem Boden stand, begannen die anderen zu johlen. Dann erstarb der Jubel wieder, und die ganze Gruppe verstummte. Sekunden später stimmten die Männer ein Kirchenlied an.

Kendall wurde schlecht. Sie schluckte die ätzenden Magensäfte hinunter, weil sie jedes Geräusch vermeiden wollte, und schlich sich so leise wie möglich rückwärts davon, um auf keinen Fall entdeckt zu werden. Sie hatte mitangesehen, wie eine Art Bürgerwehr, eine Lynchjustizgruppe, einen unschuldigen Jungen hingerichtet hatte. Wenn die Männer merkten, daß sie beobachtet worden waren, hätten sie mit ihr nicht mehr Gnade als mit Michael Li.

Sobald sie sicher war, außer Sichtweite zu sein, drehte sie sich um und floh blindlings durch den Wald. Es war ihr egal, wieviel Lärm sie dabei machte. Man würde sie nicht hören. Die Männer sangen weiter den Choral, als wollten sie den frommen Worten des Textes Hohn sprechen.

Eine Schlingpflanze ließ sie stolpern und beinahe stürzen. Automatisch preßte sie sich schützend die Hand auf den Bauch. Sie wußte, daß sie auf ihr Baby aufpassen, langsamer gehen mußte. Aber zugleich mußte sie sich beeilen. Wenn sie die Behörden sofort benachrichtigte, konnten die Männer noch am Ort ihres grausigen Verbrechens verhaftet werden.

»Mein Gott«, hauchte sie, als sie daran dachte, welche Wogen diese Verhaftung in der Gemeinde schlagen würde. Wie hatte Herman Johnson, den die meisten für einen krakeelenden Nichtsnutz hielten, die Honoratioren ihrer Gemeinde dazu überreden können, bei so unfaßbarer Unmenschlichkeit mitzumachen?

Schnell, aber nicht mehr kopflos versuchte Kendall den Weg zurückzuverfolgen, den sie gekommen war, aber das verhinderte die Dunkelheit; wegen der sah sie die Mulde auf ihrem Weg auch erst, als es schon zu spät war.

Sie verlor den Tritt, stürzte vornüber, landete auf dem Bauch und schlug hart auf. Der Sturz preßte ihr die Luft aus der Lunge, deshalb mußte sie ein paar Sekunden liegenbleiben, ehe sie wieder zu Atem kam.

In diesem Augenblick stieg ihr ein widerwärtiger Gestank in die Nase, der sie würgen ließ. Im selben Moment merkte sie, daß sie nicht im Dreck, sondern auf Stoff lag. Sie drückte sich mit den Handballen hoch und richtete sich langsam auf. Und dann sah sie Bama.

Die Hälfte seines Gesichts fehlte, und die andere Hälfte war bereits weitgehend zersetzt. Eine Augenhöhle war leer bis auf die wimmelnden Insekten, die hier ihr Festmahl hielten.

»O mein Gott, o mein Gott.« Kendall wich jämmerlich wimmernd zurück und erbrach sich auf den Boden.

Dann starrte sie, immer noch auf Händen und Knien, auf die verwesende Leiche, die man offensichtlich nicht tief genug vergraben hatte, um sie vor Aasfressern zu schützen.



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