Die vier Winde by Kristin Hannah

Die vier Winde by Kristin Hannah

Autor:Kristin Hannah
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: Aufbau digital
veröffentlicht: 2021-05-12T00:00:00+00:00


Kapitel 20

Als Loreda wach wurde, nahm sie als Erstes den Gestank des Lagers wahr. Er erinnerte sie daran, dass sie an einem Ort übernachtet hatte, der schlimmer war als alles, was sie bisher gesehen hatte.

Eine Zeit lang blieb sie einfach liegen, vor dem Zelt erwartete sie eine Realität, der sie sich nicht aussetzen mochte. Schließlich überwand sie sich, rückte vorsichtig von Anthony ab, der irgendetwas brummelte, aber weiterschlief, und streifte ihr Kleid über.

Sie hatte damit gerechnet, ihre Mutter vor dem Zelt sitzen zu sehen, auf einem umgedrehten Eimer und mit einem Becher Kaffee in der Hand. Doch ihre Mutter war nicht da, auch der Truck fehlte. Aber auf der Kiste, die ihnen als Tisch diente, standen zwei Becher Wasser, unter einem steckte eine Nachricht.

Loreda las die wenigen Zeilen, nahm einen Schluck Wasser und ließ sich nieder. Ihr Blick glitt über den ausgefahrenen Weg zur Straße, dann über die Zelte, es mochten vielleicht hundert sein, die Verschläge, die aus Holzlatten und Wellblech zusammengeschustert waren. Sie sah Frauen zum Wassergraben schlurfen, gefolgt von ihren Kindern und streunenden Hunden. Als hätten sie vor, länger zu bleiben, hatten einige Familien zwischen ihren Zelten Wäscheleinen gespannt. Eine Müllhalde gab es ebenfalls, genau wie eine Latrine. Niemand lebte hier freiwillig, dachte Loreda, nur die Dürre in den Great Plains und die Wirtschaftskrise hatten die Leute hierhergetrieben.

Nun erkannte sie, dass die schweren Zeiten, von denen alle redeten, noch ganz andere Ausmaße hatten als das, was sie bisher erlebt hatte. Sie hatten nicht nur zu Bankenzusammenbrüchen, geschlossenen Geschäften, um Essen anstehenden Menschen und Missernten geführt.

Hier bedeuteten die schweren Zeiten, keine Arbeit zu haben und zu hungern, verdrecktes Wasser aus einem Graben zu benutzen und auf einem heruntergekommenen Acker zu hausen.

Mrs. Dewey trat aus ihrem Zelt heraus und lächelte ihr zu.

Loreda war froh, jemanden zu sehen, der ihr nicht gänzlich unbekannt war, und ging zu ihr.

»Deine Mutter ist vor einer Stunde losgefahren, um sich Arbeit zu suchen.«

»Hoffentlich findet sie was. Mom hat noch nie für fremde Menschen gearbeitet.«

Mrs. Dewey lachte unfroh. »Für die Feldarbeit, die wir angeboten bekommen, braucht man keine Erfahrung. Die besseren Jobs als Kellnerin oder Verkäuferin behalten die Einheimischen für sich.«

Loreda zog die Brauen zusammen. »Das finde ich ungerecht.«

»Sicher.« Mrs. Dewey zuckte mit den Schultern. »In Zeiten der Not wenden die Leute sich immer gegen die Außenseiter. Das sind jetzt wir. Vorher waren es die Mexikaner und die Chinesen.«

Loreda ließ sich das durch den Kopf gehen. Dann seufzte sie und sagte: »Meine Mutter gibt nicht gern auf, aber vielleicht sollten wir doch lieber weiter nach Los Angeles fahren und unser Glück dort versuchen. Oder nach San Francisco.« Wie sehnsüchtig sie klang. Sie hatte sich an ihren Vater erinnert, an die vielen schönen Dinge, die sie vorgehabt hatten. Plötzlich wünschte sie, sie hätten Lonesome Tree nicht verlassen, wären noch immer auf der Farm, wo sie ein richtiges Dach über dem Kopf gehabt hatten und wo Grandma sie, wenn sie sich schlecht fühlte, in die Arme genommen und ihr eine Leckerei zugesteckt hatte.

»Komm mal her, Schätzchen«, sagte Mrs. Dewey und öffnete ihre Arme.



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