Die vielen Namen der Liebe by Thúy Kim

Die vielen Namen der Liebe by Thúy Kim

Autor:Thúy, Kim
Die sprache: deu
Format: epub
ISBN: 9783956141799
Herausgeber: Verlag Antje Kunstmann
veröffentlicht: 2017-03-07T16:00:00+00:00


PUDONG – Ostufer

EINES ABENDS ZEIGTE A YI Louis und Hà ein Notizheft mit einer Liste all ihrer Besucher samt Aufenthaltsdauer, das sie den städtischen Behörden jede Woche vorlegen musste – ein Beleg dafür, dass der Staat die beiden mittlerweile bestens kannte. Irgendwer irgendwo in einem neonbeleuchteten Büro wusste, dass Hà in ihr vietnamesisches Tagebuch schrieb, wenn sie nachts hochschreckte, dass Louis eine Rolex aus den Vierzigern besaß, die er von seinem Vater geerbt hatte, dass die beiden großzügig für tibetische Schulen spendeten usw. Dagegen bin ich mir ganz sicher, dass keiner mitbekam, wie oft Louis beim Frühstück versicherte, neben der schönsten Frau der Welt aufgewacht zu sein, oder mit welcher Lust er über Hàs ebenholzschwarze Haare strich, die sie gerade geschnitten trug wie eine japanische Puppe. Louis hätte Hà in jeder Menschenmenge allein am Schwung ihrer Wade erkannt. Und wie verliebt er sie jedes Mal ansah, wenn sie, um von sich zu sprechen, wie alle Asiaten die Spitze ihres Zeigefingers an die Nasenspitze legte, statt, wie im Westen üblich, auf die Brust zu deuten! Ich habe die beiden immer nur Hand in Hand gehen sehen.

Jeden Tag klebte Louis ein neues Zitat an den Badezimmerspiegel. Ich durfte es immer mit Hà zusammen lesen. Unbekannte Wörter schlugen wir im Wörterbuch nach und versuchten, den Sinn des Zitats zu begreifen, bevor Louis abends nach Hause kam. Anhand von Victor Hugos »Was ist dein Kuss? – Das Lecken einer Flamme« lehrte mich Hà den Unterschied zwischen dem Zungenkuss der westlichen Kultur und dem Nasenkuss der Vietnamesen: Während der eine schmeckt, riecht der andere; deshalb gebrauchen junge Vietnamesen das Wort thơm (Duft) für küssen oder um einen Kuss bitten. Paul Géraldys »Wenn du mich liebtest und wenn ich dich liebte, wie ich dich lieben würde« verwischte unsere Zeitlinie. War das Wunsch oder Reue? Wir haben diese Diskussion nicht fortgesetzt, weil Hà sehr heftig auf das Wort »Reue« reagierte: »Versprich mir, dass du nichts bereuen wirst! Niemals!«



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