Die Toten der Nacht by John Marsden

Die Toten der Nacht by John Marsden

Autor:John Marsden
Die sprache: deu
Format: epub
ISBN: 978-3-646-92706-1
Herausgeber: Carlsen Verlag GmbH, Hamburg
veröffentlicht: 2017-03-21T00:00:00+00:00


Zehntes Kapitel

Im Osten zeigte sich ein erster schwacher Lichtschein. Oder bildete ich mir das bloß ein? Ich hatte schon so oft nach der Dämmerung Ausschau gehalten, doch jedes Mal vergeblich. Homer lag neben mir, er schlief mit offenem Mund und schnarchte leise. Meine Augen fühlten sich dumpf und schwer an, als müssten sie für jeden, der in sie schaute, wie trübes und undurchsichtiges Milchglas aussehen. Zum Glück schaute mir niemand in die Augen. Ich war unruhig, blickte mich ständig um. Als ein sanfter Windhauch durch die Blätter der Bäume fuhr, klang das Rascheln wie ein verspieltes Flüstern. Im Busch vor mir brach ein Zweig ab. Das Geräusch war erstaunlich laut, obwohl ich nicht hören konnte, wie der Zweig auf der Erde aufschlug. Ein großer Vogel, vermutlich eine weiße Eule, flatterte über den Rand der Klippe und verschwand.

Dann war das unverwechselbare Geräusch menschlicher Schritte zu hören. So schwer und zielgerichtet wie der Schritt des Menschen klingt nur der einer Kuh, und in diesem Dickicht auf Kühe zu stoßen war äußerst unwahrscheinlich. Mir wurde schlecht vor Angst – und vor Hoffnung. Ich packte Homers Schulter. Während er langsam aufwachte, beugte ich mich vor und hielt ihm den Mund zu. Er röchelte leise, doch im nächsten Moment war an der plötzlichen Anspannung seines Körpers zu erkennen, dass er wach war.

Wir warteten ab, unfähig uns zu rühren. Es wäre unmöglich gewesen, uns geräuschlos zu bewegen. Die Schritte kamen näher. Ich erhob mich in die Hocke, um bereit zu sein. Durch die Bäume konnte ich eine winkende Gestalt sehen. Es war Fi. Ich hielt die Arme auf, aber sie sah mich nicht einmal an. »Sie sind hinter mir her«, sagte sie.

Es folgte eine grauenhafte Stille, dann fragte Homer rasch: »Wie viele?«

»Weiß nicht. Vielleicht auch nur einer. Es tut mir leid.«

Wir horchten wieder in den Busch hinein und hörten sofort die Schritte; sie waren leichter als die von Fi, nicht so sicher, nicht so zielstrebig.

»Es tut mir leid«, wiederholte Fi. »Ich habe es ewig versucht.«

Ihre Stimme klang schwerfällig und monoton, völlig emotionslos. Sie war am Ende. Ich drückte ihren Arm, ganz rasch. Homer hatte einen schweren Ast aufgehoben. Jetzt wünschte ich mir, er hätte seine abgesägte Schrotflinte dabei. Ich blickte mich nach einer Waffe um. Viel stand nicht zur Auswahl. Ich hob einen Stein von der Größe eines Baseballs auf und drückte ihn Fi in die Hand. Ich glaube aber nicht, dass ihr klar war, was sie damit anfangen sollte. Sie hielt ihn bloß in der Hand, ohne ihren Arm zu heben. Ich nahm mir auch einen Stein. Keiner von uns wusste, was zu tun war; wir gingen instinktiv vor und instinktiv suchten wir nach einer Waffe. Wir hätten uns aufteilen und rennen können, doch mit der Steilwand im Rücken und dem Dickicht vor uns blieb uns kaum eine Wahl. Und ein Blick auf Fi genügte, um zu wissen, dass wir bleiben und uns wehren mussten. Sie lehnte an dem Baum, unserer Leiter zurück in die Hölle. Ihr Kopf hing herab, in der Hand hielt sie immer noch den Stein.



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