Die Schleife an Stalins Bart by Erika Riemann

Die Schleife an Stalins Bart by Erika Riemann

Autor:Erika Riemann
Die sprache: deu
Format: epub


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»Grabe ins Büro.« Schon wieder Karzer? Ich bin mir keiner Schuld bewusst. In dem hellen Raum wartet schon ein Haufen Uniformierter. Ich entdecke zwischen Vopo-Grau auch Russen-Oliv. Man legt mir ein Bündel Zeichnungen vor, auf denen sich seltsame Strichmännchen tummeln. Ich brauche eine Weile, bis ich begreife, was sie von mir wollen. Die Gymnastiklehrerin Marlies Laue ist ausgefallen, und nun sucht man Ersatz. Weil in meiner Akte als Berufsbezeichnung Artistin steht, ist die Wahl auf mich gefallen. Die Zeichnungen stellen die Übungen dar, die ich durchzuführen habe.

»Aber das kann ich doch gar nicht.« »Die Genossin zeigt es dir.«

Eine Frau tritt vor. Sie führt mich aus dem Büro. In einem Nebenraum macht sie mir die Übungen im Schnelldurchgang vor. Ehe ich mich's versehe, bin ich die neue Gymnastiklehrerin. Ich habe meinen neuen Job am nächsten Morgen anzutreten.

Das anfängliche Lampenfieber verfliegt schnell. Die Übungen sind wirklich denkbar leicht. Das Schwerste an meiner Aufgabe ist es, immer aufs Neue gegen die Trägheit der eingerosteten Körper anzuarbeiten. Von morgens bis abends stehe ich nun auf meinem kleinen Podest und mache einer Gruppe nach der anderen die Bewegungen vor. Immerhin, ich habe den ganzen Tag frische Luft und Bewegung. Aber mein Körper streikt nach kurzer Zeit. Die Essensrationen sind solchem Pensum nicht angepasst. Eines Abends klappe ich vor Hunger einfach zusammen. Zwei freundliche Vopos bringen mich in die Küche und fordern mich auf: »Iss, Mädchen, iss, bis du satt bist.« Ein Eimer mit Suppe wird vor mir auf den Tisch gestellt. Ich entdecke sofort die fetten Fleischstücke. Das muss die Personalverpflegung sein. Derartiges habe ich seit Ewigkeiten nicht mehr gegessen. Am liebsten hätte ich den Eimer an den Mund gesetzt, aber ich besinne mich dann doch noch auf meine Kinderstube. Als ich den Löffel beiseite lege, ist der Eimer leer, und ich bin satt. Ich verspüre sogar ein gewisses Völlegefühl. Es ist das köstlichste Unwohlsein, das ich mir vorstellen kann. Von nun an bekomme ich Sonderrationen.

Der Himmel hängt voller Geigen. Diese Redewendung, die in den Geschichten der Erzählrunde so oft gebraucht wurde, habe ich immer albern gefunden. Was meinten die nur? Jetzt weiß ich es! Es scheint ein Juchzen in der Luft zu liegen, oder kommt es aus meinem Bauch? Ich verkühle einen Teil meiner Brotrationen, denn mein Hunger richtet sich auf ein ganz anderes Objekt. Sie heißt Uschi und kommt nicht aus der Abteilung politischer Häftlinge. Neuerdings hat man ja auch normale Kriminelle hier einquartiert. Natürlich ist sie schön, jedenfalls in meinem verklärten Blick. Aber es ist mehr als rehbraune Augen und zierliche Statur. Wärme geht von ihr aus. Erst hielt ich es für eine Art Mütterlichkeit, aber dazu wollte dieses flatternde Spektakel in meiner Brust gar nicht passen. Ihre kleinen Berührungen versetzen meinen Körper in bisher unbekannten Aufruhr. Ich bin mittlerweile neunzehn Jahre alt und keineswegs blind. Es gibt eine Vielzahl lesbischer Beziehungen um mich herum, ungeachtet der strengen Strafen. Das Zusammenleben mit den älteren Frauen hat zudem eine gewisse Aufklärung mit sich gebracht. Aber selbst wenn ich das alles nicht wüsste, meine Sehnsucht flüstert mir eindeutige Visionen ein.



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