Die Mächte des Bösen by Hawthorne Nathaniel
Autor:Hawthorne, Nathaniel
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: dtv Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & Co. KG, München
veröffentlicht: 2013-12-31T16:00:00+00:00
EDWARD RANDOLPHS GEMÄLDE
In einem der Räume der Statthalterei wurde lange Zeit ein altes Bild aufbewahrt. Der Rahmen war so schwarz wie Ebenholz und die Leinwand selber von Alter und Rauch gedunkelt, daß kein Strich von der Kunst des Malers mehr zu erkennen war. Die Zeit hatte einen undurchdringlichen Schleier darüber geworfen, und es blieb der Überlieferung, dem Bericht und der Vermutung überlassen zu sagen, was einst darauf abgebildet war. Während der Regierungszeit vieler aufeinanderfolgender Statthalter hatte es mit unangefochtener Berechtigung über dem Kamin des gleichen Zimmers gehangen; und es behauptete seinen Platz auch noch, als der stellvertretende Statthalter Hutchinson die Verwaltung der Provinz nach dem Abgang Sir Francis Bernards übernahm.
Eines Nachmittags saß Hutchinson in seinem prunkvollen Lehnstuhl, lehnte den Kopf gegen die geschnitzte Lehne und schaute nachdenklich zu dem leeren schwarzen Bild hinauf. Es war wohl kaum die Zeit für solche müßige Träumerei, wenn Geschäfte von weittragendster Bedeutung der Entscheidung des Herrschers warteten, denn vor noch nicht einer Stunde hatte Hutchinson Nachricht von der Ankunft einer britischen Flotte erhalten, die drei Regimenter von Halifax herüberbrachte, die die unbotmäßige Bevölkerung einschüchtern sollten. Diese Truppen warteten auf seine Erlaubnis, die Festung Castle William und die Stadt selber zu besetzen. Doch anstatt seine Unterschrift unter einen amtlichen Befehl zu setzen, saß der Statthalter da und forschte so aufmerksam in der schwarzen Leere der Leinwand, daß sein Benehmen die Aufmerksamkeit zweier junger Leute auf sich zog, die ihm Gesellschaft leisteten. Der eine in Soldatenkleidung und Lederkoller war sein Verwandter, Francis Lincoln, der Provinzialkommandant von Castle William, und auf einem Schemel neben seinem Sessel saß Alice Vane, seine Lieblingsnichte.
Sie war ganz weiß gekleidet, ein blasses, überzartes Geschöpf. Obwohl sie in Neuengland geboren war, hatte man sie im Ausland erzogen, und sie schien nicht nur eine Fremde aus anderem Klima, sondern fast ein Wesen aus einer andern Welt. Mehrere Jahre lang, bis sie verwaiste, hatte sie mit ihrem Vater im sonnigen Italien gewohnt und hatte dort begeisterte Vorliebe für Skulptur und Malerei gewonnen, die nur selten Befriedigung fand in den schmucklosen Wohnungen des Adels der Kolonie. Man sagte, daß die ersten Versuche ihres eigenen Pinsels kein geringes Talent verrieten, wenn auch vielleicht das rauhe Klima Neuenglands ihre Hand schwer gemacht und die glühenden Farben ihrer Phantasie gedämpft hatte. Aber als sie den gespannten Blick beobachtete, mit dem ihr Onkel durch den Nebel der Jahre hindurch nach dem Gegenstand des Bildes zu forschen schien, wurde ihre Neugierde erregt.
»Ist es bekannt, lieber Oheim«, sagte sie, »was dieses alte Bild einst darstellte? Möglicherweise stellt es sich als Meisterstück eines großen Künstlers heraus – warum behauptet es sonst so lange einen solchen Ehrenplatz?«
Da ihr Onkel, ganz im Gegensatz zu seiner sonstigen Gewohnheit – denn er gab allen Stimmungen und Launen Alices nach, als sei sie sein eigenes liebstes Kind – nicht sofort antwortete, übernahm der junge Kommandant von Castle William diese Aufgabe.
»Dieses alte dunkle Stück Leinwand, schöne Cousine«, sagte er, »ist seit undenklichen Zeiten ein Erbstück in der Statthalterei. Über den Maler kann ich dir nichts sagen, aber wenn nur
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