Die Landkarte der Zeit by Félix J. Palma

Die Landkarte der Zeit by Félix J. Palma

Autor:Félix J. Palma [Palma, Félix J.]
Die sprache: de
Format: mobi
Herausgeber: Rowohlt Digitalbuch
veröffentlicht: 2012-02-26T13:18:18+00:00


|366| XXIV

Das Gästehaus in der Buckeridge Street war ein baufälliges Gebäude mit abblätternder Fassade, eingeklemmt zwischen zwei lauten Kaschemmen, die jedem den Schlaf raubten, der jenseits der dünnen Wände seine Ruhe zu finden hoffte. Verglichen mit anderen Absteigen, in denen er gehaust hatte, war dieses schmutzige Versteck für Tom Blunt jedoch einem Palast ähnlicher als alles davor. Zu dieser frühen Nachmittagszeit lag über der Straße ein dichter Geruch von gebratenen Würsten, der aus den Tavernen drang und für die meisten Gäste des Hauses, deren Taschen gewöhnlich kaum mehr als ein paar Flusen enthielten, eine beständige Qual darstellte. Tom überquerte die Straße und versuchte, die Gerüche zu ignorieren, die ihm das Wasser in den Mund trieben wie einem Hund. Es tat ihm schon leid, dass er sich aus lauter Angst Gilliam Murrays Bankett hatte entgehen lassen, das seinen Bauch für die nächsten Tage gefüllt hätte. Neben der Tür des Gästehauses sah er den Stand von Mrs. Ritter, einer stets kummervoll dreinblickenden Witwe, die sich durch Handlesen etwas Geld dazuverdiente.

«Guten Tag, Mrs. Ritter», grüßte er sie mit höflichem Lächeln. «Wie gehen die Geschäfte?»

«Dein Lächeln ist das Beste, was ich heute zu sehen gekriegt |367| habe, Tom», antwortete die Frau, die sich offensichtlich freute, ihn zu sehen. «Kein Mensch scheint an seiner Zukunft interessiert zu sein. Oder hast du etwa im Viertel herumerzählt, dass es besser ist, nicht zu wissen, was die Vorsehung für uns bereithält?»

Toms Lächeln wurde noch breiter. Er mochte Mrs. Ritter, und seit sie neben dem Eingang der Pension ihren armseligen Stand errichtet hatte, war Tom ihr selbsternannter Fürsprecher geworden. Nachdem er sich aus dem, was im Viertel über sie erzählt wurde, ihre ganze traurige Geschichte hatte zusammenreimen können, war Tom zu dem Schluss gekommen, dass diese Frau im Leben genug gelitten hatte und er ihr von nun an helfen würde, im Rahmen seiner Möglichkeiten, versteht sich, die unglücklicherweise aus nicht viel mehr bestanden als ab und zu einem Apfel, den er auf dem Markt von Covent Garden stahl, oder ein paar freundlichen Worten, mit denen er sie aufzuheitern suchte, wenn sie einen schlechten Tag hatte. Trotzdem hatte er sich nie von ihr aus der Hand lesen lassen und dafür immer dieselbe Entschuldigung gehabt: zu wissen, was die Zukunft für ihn bereithielt, würde seine Neugier töten, und die war das Einzige, was ihn jeden Morgen dazu brachte, das Bett zu verlassen.

«Niemals würde ich Ihr Geschäft sabotieren, Mrs. Ritter», antwortete er vergnügt. «Bestimmt wird es heute Nachmittag besser.»

«Hoffentlich, Tom, hoffentlich.»

Er verabschiedete sich und stieg die wacklige Treppe zum ersten Stock der Pension hinauf, in dem sein Zimmer lag. Er schloss die Tür auf und stand dann da, betrachtete mit ungewohnter Aufmerksamkeit, als sehe er es zum |368| ersten Mal, das Zimmerchen, in dem er seit knapp zwei Jahren wohnte. Aber er schaute nicht abschätzend auf das klapprige Bett, die wurmstichige Kommode, den stockfleckigen Spiegel oder das Fensterchen, das auf die vermüllte Gasse hinter dem Haus ging, wie er es an dem Tag getan hatte, als die Vermieterin ihm die Unterkunft zeigte.



Download



Haftungsausschluss:
Diese Site speichert keine Dateien auf ihrem Server. Wir indizieren und verlinken nur                                                  Inhalte von anderen Websites zur Verfügung gestellt. Wenden Sie sich an die Inhaltsanbieter, um etwaige urheberrechtlich geschützte Inhalte zu entfernen, und senden Sie uns eine E-Mail. Wir werden die entsprechenden Links oder Inhalte umgehend entfernen.