Die gläserne Stadt by Natascha Wodin

Die gläserne Stadt by Natascha Wodin

Autor:Natascha Wodin
Die sprache: deu
Format: epub
Tags: 978-3-86913-734-6: 978-3-86913-828-2, ars vivendi, verlag, ars, vivendi, Franken, Cadolzburg, Literatur, Roman, Klassiker, Moderne, Natascha, Wodin, Russland, Sowjetunion, Displaced Persons, Zwangsarbeit, Provinz, Westdeutschland, Jan, Schulz-Ojala, Enzensberger, Siedlung, Konsumterror, Vater, Mutter, Tochter, poetisch, Einzelkind, Dolmetscher, Ostverträge, Intelligenzija, Moskau, Nürnberg, Fürth, Hermann, Hesse, Nazi, Forchheim, Langwasser, Helmut, Identität, Heimat, Fremde, Migration, Kulturen, Döblin, Mariupol, Leipzig, Tagesspiegel
Herausgeber: ars vivendi verlag GmbH & Co. KG
veröffentlicht: 2017-02-03T00:00:00+00:00


Es fiedelt und tänzelt und hüpfet

Und klappert mit seinem Gebein.

Und nickt und nickt mit dem Schädel

Unheimlich im Mondenschein.

Ich blickte auf, in Ls stummes Gesicht, und versuchte ein Lachen. Er zuckte mit den Schultern und lachte auch.

»Du glaubst doch nicht an Bücher, oder?«, fragte er und strich mir sanft übers Haar.

»Nein«, sagte ich, »ich glaube nicht an Bücher.« Ich fühlte den Anfang einer so umfassenden und übermächtigen Müdigkeit, daß ich vor Müdigkeit nicht an ihr Ende denken konnte. Mir schien, ich schliefe nicht ein, sondern glitte auf dem Sofa, eingewiegt von Ls Armen, in eine Ohnmacht, in der wieder Heine kreiste. Ich hab darüber nachgedacht schon manche tausend Jahre. Tausend Jahre, tausend Jahre … Die Sphinx! Deutschland war so weit. Die Nacht, der Schnee. Die Sphinx schleuderte ihren Schwanz durch die Luft. Und wer kommt nach Petuschki? Ha-ha! Nach Petuschki, ha-ha, kommt überhaupt keiner. Sterne fielen auf die Schwelle des Landwirtschaftssowjets. Und Sulamith bog sich vor Lachen. Ob ich Wenitschka Jerofejew hier irgendwo finden konnte?

Jeden Morgen schien die Sonne. Ein eiskaltes, schneidendes Winterlicht. Gegen Mittag versickerte es wieder im Schneedunst. Jeden Tag, ohne Unterschied. Etwas Feindseliges lag in dieser Regelmäßigkeit.

Durch die Wand hörte ich das Klappern von Geschirr aus der Küche. Sonja deckte den Frühstückstisch. Manchmal hatte ich das Gefühl, ich führte das Leben einer Dame höheren Standes im alten Rußland. Ls Augen hatten am Morgen die Farbe von Honig. Er haßte meinen achtstündigen Schlaf, den er erbarmungslos nannte. Sein ständig aufgewühlter Geist konnte nie länger als vier, fünf Stunden aussetzen. Wie sollte ich ihm sagen, daß ich heute ein Gespräch mit Helmut anmelden würde (wenn ich durchkomme, wenn man das Gespräch annehmen würde)? Er würde toben, schreien, in Ohnmacht fallen. Die Freunde herbeitelefonieren, damit sie mich besänftigen, festhalten, überreden sollten. Überreden wozu? Hatte ich gesagt, daß ich gehen wollte? War es an der Zeit, es zu sagen? Nein, ich konnte mich noch nicht von hier fortbewegen. Irgendeine gigantische Kraft war dazu nötig. Eine Kraft, die über Ls Kraft hinausging. Über alles das, was hier war. Und jeden Morgen war ich so ausgeblutet wie diesen Morgen, von dem großen Fressen der Nächte, und am Morgen hatten Ls Augen die Farbe von Honig. War ich schuldig vor ihm? Weil es nicht nur eine Halluzination ist, Windmühlen für Riesen zu halten, sondern weil es Sünde ist? Riesenwindmühlen, Windmühlenriesen, Riesen sind keine Riesen, Windmühlen sind keine Windmühlen. In der Luft taumelte eine Fliege. Wo kam sie im Winter her? Sonja klopfte an die Tür: Rühreier, Spiegeleier, gekochte Eier? L mußte heute zu einer Verlagsbesprechung. In dieser Zeit konnte ich das Gespräch anmelden. Die Tür zumachen, damit Sonja es nicht hörte.

Wir hatten uns gerade an den Tisch gesetzt, da klingelte es an der Tür. Zwei Herren in Zivil, die ihre Ausweise zeigten. Miliz. Mir wurde schwarz vor Augen. Sie kamen ohne zu fragen durch die Tür und bewegten sich wortlos, mit blinder Sicherheit auf Ls Arbeitszimmer zu. Woher wußten sie, wo es war? Und warum ausgerechnet dorthin? Irgendwo hinter den Büchern hatten wir ein Samisdat-Manuskript versteckt und eine Namensliste von Leuten, die letzten Monat verhaftet worden waren.



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