Die EHRLICHE BETRÜGERIN by Tove Jansson

Die EHRLICHE BETRÜGERIN by Tove Jansson

Autor:Tove Jansson [Jansson, Tove]
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: Verlag Freies Geistesleben
veröffentlicht: 2015-07-30T00:00:00+00:00


17

Anna hatte eine stehende Bestellung beim Buchhändler des Städtchens. Ab und zu schickte er die Bücher mit Liljeberg – Abenteuergeschichten, Bücher, die mit den Weltmeeren zu tun hatten, mit unwegsamen Gegenden, mit den Entdeckungsreisen, auf die mutige und neugierige Männer sich eingelassen hatten, als es noch namenlose weiße Flecken auf der Weltkarte gab; manchmal schickte er Klassiker und manchmal Jungenbücher, doch das Thema, das das alte Fräulein Aemelin sich ausgesucht hatte, blieb stets dasselbe. In diesen Büchern hatte die Freundschaft zwischen Anna und Mats ihren unverbrüchlichen Halt. Die Bücherpakete kamen in braunem Packpapier an, die Adresse auf Gelb. Katri öffnete sie nie, sie legte sie nur auf den Küchentisch. In der Dämmerung wurden die Bücher von Anna und Mats ausgepackt. Mats durfte als Erster wählen, er wählte immer ein Buch, das mit dem Meer zu tun hatte. Wenn er es ausgelesen hatte, war Anna an der Reihe, und anschließend sprachen sie miteinander über das Buch, zuerst über seines und dann über ihres. Das war ein Ritual. Über ihr eigenes Leben und das, was ringsum geschah, wechselten sie nicht viele Worte, sie sprachen nur über die Menschen, die in ihren Büchern in einer unanfechtbaren Welt aus Ritterlichkeit und siegender Gerechtigkeit lebten. Über das Boot sprach Mats nie, aber viel über Boote.

Es gelang Anna, die aussortierten Briefe, die sich nach und nach irgendwo auf dem Dachboden häuften, zu vergessen, aber eines Nachts flatterten sie in ihre Träume hinein. Sie träumte, dass sie die ungelesenen Briefe aufs Eis hinaustrug, weit hinaus zu dem schwarzen Haufen aus ausrangierten Möbeln, diesen rücksichtslos zusammengepferchten und einst liebevoll gehegten Besitztümern, und dort draußen warf sie alles hin, die Bitten unbekannter Absender, ihre Geheimnisse und ihre listigen Vorschläge, sie warf sie ganz einfach von sich, worauf sie in einer Wolke aus vollgeschriebenem Papier davonstoben, eine unendliche Post ohne Grenzen, sie flogen wie ein einziger riesiger Vorwurf in den Himmel hinauf, und Anna wachte auf und fuhr hoch, von schlechtem Gewissen und Schweiß durchtränkt.

Da ging sie in die Küche hinaus, in den freundlichsten Raum ihres Hauses. Auf dem Tisch lagen noch die ausgepackten Bücher, funkelnagelneu und glänzend in ihren lockenden Abenteuerfarben. Sie rochen gut.

Anna nahm ein Buch nach dem anderen in die Hand, sie führte sie an ihre Wange und atmete den so rasch verflüchtigten Duft des Ungelesenen ein, der nichts anderem gleicht, sie öffnete die leicht aufbrechenden Seiten, die noch unberührt knisterten, und betrachtete die stürmischen, kühnen Bilder, des Zeichners Traum vom Unglaublichen, aber für ihn doch Denkbaren. Anna glaubte nicht, dass dieser Zeichner schon einmal einen richtigen Sturm erlebt oder sich in einem Urwald verirrt hatte. Eben darum, dachte sie. Er macht es noch schrecklicher und größer, weil er es nicht kennt. Ich glaube nicht, dass Jules Verne jemals gereist ist … Ich dagegen bilde ab. Aber ich brauche mich ja nicht fortzusehnen. – Anna blätterte Seite nach Seite um und betrachtete nachdenklich jede Illustration; allmählich legte sich ihre Unruhe.

Die Rechnung des Buchhändlers lag vergessen auf dem Tisch.

Anna faltete sie mehrmals zusammen, hielt das Papier fest in ihrer Faust und dachte, diese Rechnung wenigstens bekommt sie nie zu Gesicht.



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