Die das Leben lieben. Roman by Erich Segal

Autor:Erich Segal [Segal, Erich]
Die sprache: deu
Format: epub
ISBN: 9783104029054
Herausgeber: FISCHER E-Books
veröffentlicht: 2014-07-01T16:00:00+00:00

29

Am 28. August 1963 zählte die Menge, die sich in der heißen Sonne vor dem Lincoln Memorial in Washington versammelt hatte, nahezu eine Viertelmillion. Jeder einzelne der sechstausend Polizisten des District of Washington war mobilisiert worden. Viertausend Marines standen in Bereitschaft. Doch bei dem ganzen Marsch hatte es keinen einzigen Zwischenfall gegeben. Denn diese Menschen waren kein aufrührerischer Mob, sondern eine Gemeinschaft, die dem Ruf Martin Luther Kings folgte, nachdem dieser »das Gewissen der Nation herausgefordert« hatte.

»I have a dream – ich habe einen Traum, daß diese Nation sich eines Tages erheben und nach der wahren Bedeutung ihres Glaubensbekenntnisses leben wird: ›Folgende Wahrheiten halten wir für selbstverständlich: daß alle Menschen gleich geschaffen sind …‹ I have a dream – ich habe einen Traum, daß meine vier kleinen Kinder eines Tages in einem Land leben werden, in dem sie nicht nach ihrer Hautfarbe beurteilt werden, sondern nach ihrem Charakter.«

Seine Worte ließen die riesige, jubelnde Menge aufspringen. Viele begannen vor tiefer Bewegung zu weinen. Ungefähr fünfzehn Meter von Bennett Landsmann entfernt brach eine junge Schwarze zusammen. Opfer sowohl der glühenden Sonne als auch der eigenen fiebrigen Erregung.

Ben drängte sich durch die Neugierigen, die das Mädchen umringten, und rief immer wieder laut: »Ich bin Arzt! Ich bin Arzt!« Kurz darauf kniete er neben ihr auf dem Boden.

»Alles in Ordnung mit ihr?« erkundigten sich mehrere Umstehende.

Er nickte. »Wir müssen sie nur möglichst schnell zu einem der Erste-Hilfe-Zelte bringen.«

»Eins steht gleich um die Ecke neben dem Denkmal«, erwiderte ein junger Mann und deutete an Präsident Lincolns Marmorsessel vorbei. »Ich gehe voraus.«

Behutsam ihren Kopf emporhaltend, hob Bennett die Patientin auf und befahl den dichtgedrängten Zuschauern, ihm Platz zu machen. Kurz darauf erreichten sie den Schatten eines weißen Zeltes mit Rotkreuzfahne.

»He, hallo! Ein schwerer Fall von Hitzschlag! Ich brauch sofort eine Kochsalzinfusion und ein paar eiskalte Handtücher! Und auch den Blutdruck müssen wir messen.«

»He, Bruder – locker bleiben!« rief eine freiwillige Helferin. »Leg sie einfach da auf das Feldbett; ich laufe schnell den Doktor holen.«

»Immer mit der Ruhe, Mädchen«, gab er zurück. »Ich bin Arzt, also komm anfassen, ja?«

Während ihm das Mädchen half, die Bewußtlose auf eine Liege zu betten, mußte Bennett unwillkürlich denken: Großer Gott, ausgerechnet hier, im Schatten von Abe Lincoln, während Martin Luther Kings Worte noch in der Luft hängen, muß diese Soul Sister daran zweifeln, daß ich tatsächlich ein echter Arzt bin!

In diesem Moment kam auf den Ruf hin die diensthabende Ärztin hereingeeilt und fing an zu lachen.

»Hallo, Landsmann! Wo zum Teufel hast du den ganzen Nachmittag gesteckt? Ich hätte wirklich ein bißchen Hilfe brauchen können!«

Es war Laura. Er grinste breit.

»Castellano! Was tut ein nettes Mädchen wie du an so einem Ort?«

»Wie sieht’s denn aus – wie Kuchenbacken?«

Eine ihrer Studentenhelferinnen brachte im Laufschritt ein Infusionsgerät und eine Flasche Kochsalzlösung herbei.

Während Laura den Tropf installierte, stach Bennett die Nadel in den Unterarm der noch immer bewußtlosen Patientin.

»Genau wie früher, eh?« meinte er.

»Ja.« Laura lächelte. »Aber ich hab das Gefühl, daß es Millionen Jahre her ist, seit wir an Orangen Injektionen geübt haben.«

Sie legte dem Mädchen die Blutdruckmanschette an und drückte ihr Stethoskop auf die Ellenbeuge der Reglosen.

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