Die Alchimistin 01 - Die Alchimistin by Kai Meyer

Die Alchimistin 01 - Die Alchimistin by Kai Meyer

Autor:Kai Meyer [Meyer, Kai]
Die sprache: deu
Format: epub
ISBN: 3-453-13841-4
veröffentlicht: 1998-01-01T00:00:00+00:00


ZWEITES BUCH

SIEBEN JAHRE SPÄTER 1904

KAPITEL 1

Im Morgengrauen erwachte die Stadt aus dunklem Schlummer und streckte ihre Glieder. Sie wurde größer, die Türme höher, sie dehnte sich aus, während sich immer mehr Gebäude und Straßenzüge aus dem Dämmerlicht schälten. Einzelne Glutpunkte flammten in der düsteren Masse auf, Fenster, in denen sich der erste Schimmer des Tages brach. Wie ein Lauffeuer breitete sich dann der frühe Sonnenschein über die einzelnen Stadtteile aus, ein goldenes Glosen und Leuchten, das von Fenster zu Fenster, von Haus zu Haus übersprang. Von der Donau hoben sich die Nebel und lösten sich in Nichts auf. Stränge aus Rauch stiegen zum Himmel empor, erst vereinzelt, dann immer mehr, bis die ganze Stadt in Fesseln lag. Menschen lösten sich aus Türen und Torbögen, vereinten sich in Gassen und Straßen zu wimmelnden Kolonnen, wie Zahlenreihen im Aufmarsch einer mathematischen Gleichung.

Die Dächerlandschaft Wiens breitete sich bei Tagesanbruch aus wie das steingewordene Abbild eines orientalischen Basars, wimmelnd und überbordend in seiner Verschiedenheit. Spitze Giebel und geschwungene Kuppeln, rußige Schlote und Kamine von zarter Anmut, kühne Horste mit Zinnenkränzen und flache, schnöde Barackendächer – sie alle schienen sich im Morgendunst hin und her zu schieben, ein Gedränge aus roten Ziegeln und grauem Schiefer. Unter ihnen erwachten Villen und Palais zu neuem Leben, Katen, Hütten und Mietskasernen grüßten türenschlagend den leuchtenden Morgen. Der Tag war da, und mit ihm kam die Erinnerung.

Auras Erinnerung.

Der Schaffner hatte eben erst an der Tür ihres Schlafabteils geklopft – »Wien in zwanzig Minuten!« –, aber sie war schon über eine Stunde lang auf den Beinen gewesen. Während der Zug die Vororte passierte, saß sie am Fenster und blickte hinaus. Vor ihr, auf dem winzigen Tischchen unterhalb des Fensters, lag etwas, das aussah wie eine Zigarre. Bei jedem Rumpeln und Rucken der Räder rollte es vor und zurück. Aura bremste es mit der Fingerspitze, sobald es von der Tischkante zu gleiten drohte.

Ihr Blick streifte nachdenklich die Dächer und Fassaden, die Giebel, Erker und Stuckbalkone. Je näher der Zug den zentralen Bezirken kam, desto prachtvoller erschien ihr die Stadt. Aura fiel auf, daß sie Wien bei ihrem Aufenthalt vor sieben Jahren keines zweiten Blickes gewürdigt hatte. Die Schönheit und der Zauber der alten Kaiserstadt hatten sie vollkommen unberührt gelassen.

Die Zigarre rollte wieder, und abermals hielt Aura sie auf. Gedankenverloren blickte sie auf das fingerlange Ding hinab. Es war plump gedreht und ohne Etikett. Noch einmal schob sie es mit dem Finger zurück, und erneut kullerte es durch die Vibration der Fahrt zurück, zu ihr. Ein wenig wie ihre Vergangenheit, die sie noch so oft von sich stoßen mochte – jedesmal vergeblich.

Immer wenn die Gedanken an damals zurückkehrten, fanden sie eine andere, veränderte Aura vor. Selbst äußerlich. Sie trug das schwarze Haar jetzt kürzer, nur noch bis zu den Schulterblättern, und bei den seltenen Wegen, die sie unter andere Menschen führten, verbarg sie es gänzlich unter einem breiten schwarzen Hut. Die meisten glaubten bei ihrem Anblick – den nachtfarbenen Kleidern und langen Mänteln –, sie trage Trauer, und vielleicht verbarg sich in dieser Annahme eine viel größere Wahrheit, als selbst Aura erkannte.



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