Der Sommer mit Pasha by Yelena Akhtiorskaya

Der Sommer mit Pasha by Yelena Akhtiorskaya

Autor:Yelena Akhtiorskaya [Akhtiorskaya, Yelena]
Die sprache: deu
Format: epub
Tags: Roman
ISBN: 9783644121911
Herausgeber: Rowohlt E-Book
veröffentlicht: 2015-12-21T16:00:00+00:00


Zweiter Teil

2008

Neun

Marina bestieg die Linie Q nach Coney Island, entdeckte eine wenige Zentimeter breite Lücke auf der Sitzbank und manövrierte sich im Rückwärtsgang hinein. Gab es einen größeren Triumph? Die schwangere Frau an der Tür wirkte ganz robust und sah nach Park Slope aus, sicher würde sie ohnehin gleich aussteigen. Marina saß geborgen in einer Wiege aus menschlicher Wärme, die sanft hin und her schaukelte, und ließ sich vom Schlummerlied der Schienen einlullen. Doch sie hatte sich zu früh gefreut – an der DeKalb Avenue kam es zu einem Blickkontakt ruheloser Pupillen. Es gab kein Entkommen. Marina aktivierte ihre letzten Kraftreserven, die fast täglich angezapft und meistens geleert wurden. Die Bekannte näherte sich, hielt inne, ließ den Kopf von Schulter zu Schulter baumeln. Die Frau – Marina konnte sie nicht einordnen, in welchem ihrer früheren Leben hätte sie suchen sollen? – fing an, sich über einen Roman auszulassen, den sie gerade gelesen hatte: episch, spannend, zutiefst anrührend. Ihr Gerede war wie eine Erlaubnis abzuschalten. Marina nickte brav, studierte den kantigen Kiefer der Bekannten, ihr Einfachkinn, die makellosen Zahnreihen, bis ihr Nacken schmerzte und sie den Kopf senken musste. Spitze Schlangenlederstiefel mit Messingschnalle kollidierten frontal mit Marinas rattengrauen Reeboks, die sie im Ausverkauf bei Loehmann’s erstanden hatte, eine halbe Nummer zu groß, damit sie mit den Zehen wackeln konnte, halleluja! Einige Haltestellen später floh die Stampede aus dem Waggon und ließ Marina allein und mit einem Buch in der Hand zurück. Wäre sie nicht kurz vorm Zusammenbruch gewesen, hätte sie niemals ein Geschenk angenommen, das sie zu weiterem Kontakt mit dieser Frau verpflichtete, wer immer sie auch war; ganz offensichtlich eine Person, die sich im Delirium nach Schichtende zu großen Gesten hinreißen ließ, die sie später sicherlich bereuen würde. Abwarten, in ein paar Wochen würde das Telefon klingeln, unbekannte Nummer, und dann würde die Bekannte das Buch zurückverlangen oder wenigstens Marinas Meinung dazu einfordern und einen tiefschürfenden Austausch von Gedanken und Vorstellungen anregen.

Vorerst wollte sie diesen Buchrücken nicht knicken. Erstens ärgerte sie sich über so viel Zudringlichkeit. Niemand wusste, was sie durchmachte. Niemand hatte so etwas je durchgemacht. Und zweitens – der Buchumschlag! Das verschwommene Cover sollte wohl eine mittelalterliche Szene darstellen und ließ erahnen, dass es sich um einen historischen Roman handelte, ein Genre, dass Marina hasste wie die Pest. Und zuletzt die Größe. Immerhin kann ich damit meine Bizepse trainieren, witzelte Marina im Stillen.

Wie lang das Buch genau war, konnte sie bald darauf nicht mehr sagen. Anfangs hatte sie geglaubt, die genaue Seitenzahl zu kennen würde sie einschüchtern und entmutigen, doch inzwischen fürchtete sie das Ende. Ihre Mutter pflegte zu sagen, dass eine Frau ab einem gewissen Alter nichts weiter braucht als ein gutes Buch, eine Aussage, die es in Marinas Augen nicht einmal wert war, ihr zu widersprechen. Aber … Der Roman war in einer lebhaften Sprache verfasst (so stand es auf der Rückseite – Marina teilte die Einschätzung) und hatte bislang im Amerika des siebzehnten Jahrhunderts (Hexenprozesse), im nördlichen China zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts (Boxeraufstand) und im heutigen Zürich und Moskau (das Leben) gespielt.



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