Der Mann im Wald by Ködel Wolfgang; Eichhorst Sabine

Der Mann im Wald by Ködel Wolfgang; Eichhorst Sabine

Autor:Ködel, Wolfgang; Eichhorst, Sabine [Ködel, Wolfgang; Eichhorst, Sabine]
Die sprache: deu
Format: epub
ISBN: 9783492974967
veröffentlicht: 2016-07-28T09:11:52+00:00


9

Wie eine Schlange windet sich der Fluss durch die Auen. Sanfter Wind kräuselt seine Oberfläche und Tausende winziger Lichtblitze tanzen übers Wasser und lassen es glitzern und gleißen. Ein Schwarm Enten treibt flussabwärts und ich sehe ihm nach, bis sich die Konturen der plumpen Körper, der dünnen Hälse, der kleinen Köpfe im hellen Licht auflösen.

Ich schließe die Augen.

Doch hinter meinen geschlossenen Lidern wirbelt es weiter – helle Splitter flirren vor dunklem Grund, ein Blinken und Flimmern, ein Leuchten und Schimmern, ein Funkeln und Sprühen, ein gleißendes Kaleidoskop ...

Ein Meer aus Licht.

Und wieder wird mir seltsam leicht und ein fast vergessenes Gefühl breitet sich in meinem Inneren aus, ein Gefühl irgendwo zwischen Sorglosigkeit und Schwerelosigkeit ...

Als ich zwanzig Jahre alt war, wollte ich nach Kanada auswandern. Trotz meiner Bewunderung für Einstein und seine Gedanken über den Pazifismus wollte ich mich als Zeitsoldat verpflichten, denn die Bundeswehr, die viele ihrer Übungsflüge über den leeren Weiten Kanadas fliegt, bot mir an, die dortige Luftwaffe bei der Instandhaltung ihrer Flugzeuge zu unterstützen. In Gedanken sah ich mich schon in den Rocky Mountains, fuhr durch Prärielandschaften und endlose Wälder, flog über die arktische Tundra, Fjorde und Seen. Ich war fasziniert von einer überwältigenden Natur und von Gegenden, in denen man kaum Menschen traf, dafür Bären, Wölfe und Rentiere. Ich träumte von den Niagarafällen und vom Indian Summer, ich vibrierte vor Vorfreude, in diese Landschaften zu tauchen und mich in ihnen zu verlieren. Es war ein unwiderstehliches Ziehen.

Ich unterschrieb.

Als ich nach Hause kam, brach die Mutter in Tränen aus. »Bub, was hast du getan?«

»Ich will fort.«

»Aber du hast doch alles!«

»Ich will raus aus dem Dorf und andere Länder sehen.«

»Das kannst du mir nicht antun.«

Ich schluckte.

»Ich will ...«

»Das kannst du mir nicht antun.«

»Ich möchte ...«

»Tu mir das nicht an.«

Tränen.

Tränen.

Und noch mehr Tränen. Ich spürte, wie ich mürbe wurde. Wie meine Pläne schrumpften – keiner in der Familie war je weiter als bis Würzburg gezogen.

»Und was wird aus dem Grundstück?«, fragte der Vater tonlos.

»Das Grundstück?«

Er nickte – das Grundstück seiner Schwester, wenige Meter die Straße hinauf, das Haus war reserviert für Margaretha oder mich, der jeweils andere würde nebenan bauen. So bliebe die Familie beieinander.

»Was wird daraus?«, fragte er. Er weinte nicht, er weinte nie, doch sein Gesicht war das eines Mannes, der zusehen musste, wie seine Zukunft zerfiel.

»Bub«, sagte die Mutter und ein neuer Strom Tränen quoll aus ihren rot geweinten Augen, »das kannst du uns nicht antun.«

Ich gab auf.

Und blieb.

Eine brummende Fliege landet auf meiner Stirn. Ich öffne die Augen, wische sie fort. Der Fluss schillert noch immer, als tanzten Tausende Silbertropfen übers Wasser – warum bloß berührt uns die Schönheit der Natur so unmittelbar? Schon immer hat es mich mit allem versöhnt, wenn ich in den Wald ging, durch Wiesen streifte, ans Meer fuhr. Vor allem ans Meer. Stundenlang auf eine gerade Linie am Horizont zu schauen mag für manche Menschen der Inbegriff der Langeweile sein, mich beruhigt es. Als würde durch die scheinbar unveränderliche Balance im Außen auch innen ein Gleichgewicht hergestellt, als fänden alle Gedanken, Gefühle, Freuden und Schmerzen ihren Platz, ihren Sinn.



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