Der lange Nachkrieg by Erwin Uhrmann

Der lange Nachkrieg by Erwin Uhrmann

Autor:Erwin Uhrmann [Uhrmann, Erwin]
Die sprache: deu
Format: epub
Tags: Erinnerung, Milieu, Familie
ISBN: 9783990390542
Herausgeber: Limbus Verlag
veröffentlicht: 2015-02-11T16:00:00+00:00


XVI

Im Herbst war ich froh, in einer Höhlenwohnung zu leben. Jedes Mal, wenn ich die Wohnung auf die boulevardgleiche Straße hinaus verließ, knirschte der getrocknete Schmutz unter meinen Schuhen. Ich konnte den klaren Geruch nach einer langen Hitzewelle atmen.

Roman Mahler hatte mir eine Nachricht auf dem Anrufbeantworter hinterlassen. Er bat um einen Rückruf, beizeiten. Unwohlsein verursachte der Anruf, weil ich es nicht gewohnt war, jemanden aufgrund eines Anliegens zurückzurufen, und Mahler hätte ich nicht erwartet.

Gleich schob ich die Schuld allen Übels auf meine Eltern, die mich, wie ich meinte, unkommunikativ erzogen hatten. Dann konnte wieder die Schuld nur ich haben, weil ich noch immer keinen Arbeitsplatz gefunden hatte, dachte ich. Es geht immer stückchenweise bergab. Das Sprechen verlernen kommt am Ende. Zuerst sind es Teile. Das Antworten verlernen, das Zurückrufen verlernen, das Anschauen an der Kasse verlernen, wenn man den Kassenbon bekommt, das Passive verlernen, das Aktive schlittert dann mit. Etwas stülpte sich über mich und ich entwich dem Stülpgeräusch fluchtartig nach innen. Und der Gummi, das übergestülpte Außen, ließ mich nicht mehr heraus.

„Nicht unter Druck setzen lassen“, beruhigte ich mich lauthals.

Angenehmer als Beklemmung und Existenzangst war die irrationale Angst, die Bedrohung.

Mechadrohkuks reibt in diesem Moment sein zufriedenes Maul an einem Handtuch. Blut und Sekrete wischt er sich von seinen Pfoten und Barthaaren. Ich habe Twigutschatka vertrieben. Ich hatte es vergessen. Er war auch noch da.

„Mein zufriedenes Maul“, sagt er, wie in so vielen meiner Träume. Er sieht mir in die Augen, reißt die Wimpern und Brauen in die Höhe. Nichts passiert. Mechadrohkuks macht weiter, zieht sich sein Oberteil aus und schüttelt es. Er schaut in seinen tiefen Brunnen, der mitten in seiner Höhle steht, zu tief, dass er sich spiegeln könnte.

„Ich zeige dir mein zufriedenes Maul und meine zufriedenen Zähne“, sagt er, und das ‚ä‘ in Zähne dehnt er in eine schulkindliche Länge.

Dann sieht er hoch und spitzt die Lippen und lässt die Wangen einfallen. Er zuckt mit dem Kopf seitwärts und tappt mit seinen Füßen dazu. „Wie“, fragt er mich in Dandy-Haltung, „wie ist sie denn umgekommen? Ich zeig es dir.“

Und er nimmt eine Spritze aus einem alten Reisekoffer.

„Schlafe ein, schlafe ein“, singt er mit Zarah Leanders Stimme, „schlafe ein, schlafe ein.“

Mechadrohkuks legt sich rasch einen weißen Kittel um und setzt sich eine Haube auf, um wie eine Krankenschwester auszusehen. Von hinten betrachtet könnte man ihn verwechseln mit einem Menschen, wären da nicht die Schnurrhaare seitlich. „Schlafe ein, schlafe ein“, lullt er.

Und geht auf die Liegestätte neben dem Marmorwaschbecken zu und hebt seine Bettdecke. Ein weißes Leintuch konturiert darunter die Formen eines Körpers.

„Ich zeige sie dir jetzt“, sagt er und reißt das Tuch weg.

Twigutschatka ist weg. Wirklich.

Es läutete das Telefon und weil ich Mahler vermutete, hob ich mit Schädelpochen ab, meine kalten feuchten Finger umkrampften den Hörer, der mir entrutschte. Dann meldete sich ein ehemaliger Studienkollege. Während er mir von einem Problem in seiner Doktorarbeit erzählte, dachte ich im Hinterkopf, dass es Zeit wäre, sich aus der Stadt zu entfernen, weil alle Kontakte, die ich hatte, rückwärtsgewandt waren,



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