Der Junge muss an die frische Luft - Meine Kindheit und ich by Hape Kerkeling
Autor:Hape Kerkeling [Kerkeling, Hape]
Die sprache: deu
Format: epub
ISBN: 9783492967396
Herausgeber: Piper ebooks
veröffentlicht: 2014-10-06T22:00:00+00:00
KAPITEL 12
AN DER SEITE EINES TAUMELNDEN STERNS
Jeden Tag schlägt
eine andere Tür
für immer zu.
Meine größte Angst nach dem Tod meiner Mutter war, dass sie von der Welt eines Tages vergessen sein würde, ohne bleibende Spuren hinterlassen zu haben. Ihr Grab existiert heute, über vierzig Jahre nach ihrem Tod, nicht mehr. In mir aber lebt meine Mutter weiter. Die bleibenden Spuren, die sie aus reiner Kraftlosigkeit in der Welt nicht mehr hinterlassen konnte, will ich nun hoffentlich in ihrem Sinne nachträglich zeichnen.
Es stellt sich bei genauerer Untersuchung bald heraus, dass der angeblich vorübergehende Verlust des Geruchs- und Geschmackssinns ein nicht mehr zu behebender ärztlicher und operativer Kunstfehler ist. Im Jahre 1972 klagt man gegen so einen Unfall nicht etwa vor Gericht, sondern hat den Schaden einfach hinzunehmen, nach dem Motto: Shit happens.
Da kann man noch so wütend werden über die ungerechten Zufälligkeiten in dieser Welt, es ändert sich dennoch nichts daran.
Der dauerhafte Verlust dieser beiden elementaren Sinne stellt für meine Mutter eine unvorstellbare Beeinträchtigung der Lebensqualität dar und wird sie ihrem Ende nun regelrecht entgegentreiben. Mutter verliert die Sinne des Lebens.
Veilchenduft oder angebranntes Essen. Sie kann es nicht mehr auseinanderhalten. Das führt mitunter zu grotesken Situationen. Sie parfümiert sich so stark und so lange, bis sie glaubt, den Duft doch noch wahrnehmen zu können. Meine Mutter riecht nun manchmal wie eine Parfümfabrik.
Die unendlichen Dimensionen des Schmeckens und Riechens verschließen sich ihr für immer. Das Kochen wird zu einer nervenaufreibenden und manchmal unlösbaren Aufgabe. Sie weiß einfach nicht mehr genau, was sie da tut. Die Qualität des Essens hängt nun mehr und mehr von meinen Geschmacksnerven ab: »Hans-Peter, probier das bitte mal! Kann man das so auf den Tisch bringen?«
Mein 15-jähriger Bruder entwickelt in dieser Zeit den verständlichen und nachvollziehbaren Wunsch, einmal ein großer Sternekoch zu werden, und stellt sich nun höchstselbst immer wieder an den Herd, und was er da so zaubert, ist äußerst beeindruckend. Meiner geschmacksblinden Mama versuche ich dann, das Aroma der Speisen in schillernden Worten zu beschreiben, um sie dadurch am Genuss teilhaben zu lassen. Ihr mundet jedoch nichts von dem, was mein Bruder für uns kocht.
Ständig reißt sie panisch alle Fenster und Türen auf, da sie vermutet, es könnten sich üble Gerüche in der Wohnung festsetzen, die sie nicht mehr wahrnehmen kann. Fischgerichte verschwinden völlig aus ihrem Repertoire. Am schlimmsten aber ist es zu sehen, mit welcher Lustlosigkeit sie sich selbst zwangsernährt. Sie verliert völlig das Interesse an der Nahrungsaufnahme und magert innerhalb kürzester Zeit bedrohlich ab. Eigentlich nimmt sie nur noch, und das allein am Tisch sitzend, Salat zu sich. Den kann sie zwar auch nicht schmecken, aber der ist wenigstens hörbar knackig und täuscht somit eine Art von frischem Geschmack vor. Alles andere schmeckt nur noch wie Pappe.
Sie kapselt sich immer mehr ab. Gesellschaften meidet sie nun konsequent. Es ist verrückt, wie schnell das Leben durch den Verlust dieser Sinne unmöglich wird. Jeden Tag schlägt eine andere Tür für immer zu. Tausende von Möglichkeiten enden immer in ein und derselben geschmacklosen Sackgasse.
Mein Gott, wie sehr erfreut man sich an einem deftigen Braten mit Soße, einem Zitroneneis oder einem gerösteten Kaffee.
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