Das Urteil oder der Gegenmensch (German Edition) by Hildegard Knef
Autor:Hildegard Knef [Knef, Hildegard]
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: Edel
veröffentlicht: 2014-10-05T04:00:00+00:00
Martin übernimmt den Transport. In seinem Uralt-VW fährt er drei Wochen später in Richtung Salzburg und Krankenhaus, die Patientin neben sich. David ist beim Bau, Umbau, ganz Bauarbeiter; in hohen Armeestiefeln, abgewetzten Hosen, vergammeltem Hut, Tochter auf dem Arm. Irgendwann kam die Fähigkeit abhanden, vor Krankenhäusern, in öden Zimmern neben schmalen Betten, straffgezogenen Laken, blinkenden Waschbecken, nierenförmigen Emailleschalen und Thermometergläsern aneinander vorbeizusehen und »Bis bald«, »Wird schon schiefgehn« zu sagen.
Martin brüllte am Telefon: »I kimm.« Martin brüllt immer, wenn er telefoniert, während der ersten Minuten auf jeden Fall, erst dann läßt er den polternden Frohsinn hinter sich, findet zur normalen Lautstärke zurück. Die normale Lautstärke ist leise, einfühlend, das Ende eines Satzes nachdenklich fragend oder fallengelassen, von vereinzelten Momenten störrisch schallender, auch professionell bedingter Heiterkeit durchsetzt. Martin ist Pfarrer, Pfarrer aus urbayerischem Geschlecht. »A pfundiges G’spann san ma«, sprach er einstens, sich und mich in einer Fensterscheibe betrachtend. Ich, die verwilderte Protestantin, er, der gläubige, wenn auch eigenwillig-widerborstige, renitente und kritische Katholik. Martin lenkt seinen VW, als hielte er die Zügel eines alten Kleppers: nach hinten gelehnt, die Arme lose ausgestreckt, Kopf nach vorn geschoben. Wie immer sehe ich einen sehr jungen Martin vor mir, einen beinahe kindlichen. Die unauffällig gerade Nase, deren Spitze rund und stumpf, seine dunkelbraunen, das Gesicht beherrschenden Augen geben den Eindruck des Unbenutzten, auch Verletzbaren; selbst das spärlich dunkle Haar, auch etliche Falten auf Stirn und Wangen ändern nichts daran. Fast alle, Tochter und Mann ausgenommen, erscheinen mir älter, als sie sind. Ihre noch straffe Haut wird ohne Beanspruchung der Phantasie faltig und lasch, ihre Gesichter verfettet oder ausgemergelt – ohne den Reiz des Erlebten, ohne das knochig-glatte eines alten Henry Miller, das breit-behäbige eines Carlo Schmid, zerknautschen sie vor meinen Augen, fallen mürbe und aufgebraucht aus ihrer Form. Martin wischt über das schweißbedeckte Gesicht, die Sonne blendet wie das Licht auf uns gerichteter Scheinwerfer, geduldig zuckeln wir hinter einem Heuwagen her. Martin sagt: »I glaub’s net.« Maulfaul bin ich. Ein Leben lang habe ich Ängste und Spannungen überschnattert, übertönt. »Als Kind warst du maulfaul«, sagte meine Mutter, »wenn man dich etwas fragte, einsilbiger ging’s nicht mehr.« Werde ich am Ende wieder maulfaul? Wer spricht von Ende? Das Fünkchen Hoffnung schwelt standhaft, brav, geflissentlich. »Was glaubst du nicht?« frage ich endlich, quarrig-gezerrt, als hätte ich Kieselsteine im Mund.Matt fühle ich mich,matt,klebrig und schrumplig. »Daß es das ist, was die befürchten«, sagt Martin.
Schon setze ich mich auf, verspanne die Schultern, sage feindselig: »Warum sprichst du’s nicht aus?«
»Hast recht«, sagt Martin, keineswegs begütigend, »trotzdem glaub’ ich nicht, daß es Krebs ist.« »Krebs« kommt schwer über die Lippen, er sagt »K«, stockt, setzt wieder an.
»Katholiken sollen weniger Herzinfarkte haben als andre«, sage ich, »statistisch erwiesen. Oder ist das euer Werbeslogan?«
Martin grinst, kutscht um den Heuwagen herum, sieht erstaunt einen hochbeinigen gelben Vorkriegs-Postbus auf sich zukommen, bremst, schaltet, würgt ab, nickt verständnislos dem tobsüchtigen Fahrer zu, sagt: »Prima Idee.«
»Habt ihr auch weniger Krebs?« frage ich gleichbleibend tückisch. »Fürchte nein«, sagt Martin und niest erbärmlich und heuschnupfig, während der Wagen den Niesern gemäße Sprünge und Wendungen macht.
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