Das Haus hinter dem Maulbeerbaum by Abele Helen

Autor:Abele, Helen
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: blanvalet
veröffentlicht: 2015-03-04T16:00:00+00:00

22

In dieser Nacht fand Agnes keine Ruhe. Micheles grobe Annäherungsversuche ließen sich nicht so einfach fortschieben. Unruhig wälzte sie sich von einer Seite auf die andere und dämmerte immer wieder weg, ohne aber wirklich einzuschlafen. Dabei formten sich seltsame Bilder in ihrem Kopf. Sie sah Hans, der von einem riesigen irischen Wolfshund angegriffen wurde. Dann fand sie sich plötzlich in ihrer mündlichen Abiturprüfung wieder, doch noch bevor sie ihr Referat halten konnte, sagte der Geschichtslehrer, der irritierenderweise genau wie Michele aussah: »Danke, das genügt. Für diesen exzellenten Beitrag und Ihre hübschen Sommersprossen bekommen Sie fünfzehn Punkte.«

Irgendwann gab Agnes es auf. Sie verschränkte die Arme unter dem Kopfkissen in ihrem Nacken und versuchte, die schreckliche Situation mit Michele durch eine bewusste Erinnerung aus früheren Zeiten zu verjagen. Der Anfang ihrer Beziehung zu Hans kam ihr als Erstes in den Sinn. Doch trieb sie damit nicht den Teufel mit dem Beelzebub aus? Egal. Hauptsache, sie musste nicht mehr an Michele und seine harten, trockenen Lippen auf ihrem Mund denken …

Sie war noch Studentin im ersten Semester gewesen, als sie mit Hans zusammenkam. Ein Zufall hatte sie in sein Büro gebracht, denn eigentlich war es ihr Plan gewesen, sich um ein Praktikum bei Renzo Piano in Genua zu bewerben. Aber dann hatte sie ihr Professor für Bauen im Bestand an einen Kollegen vermittelt. Beim Vorstellungsgespräch fand sie Hans schrecklich unsympathisch – wohingegen er später gern erzählte, er hätte damals schon beschlossen, dass sie die Mutter seiner Kinder werden würde.

Sie starrte ins Dunkel des Zimmers. Ja, es hatte ihr geschmeichelt, dass der wohlhabende Chef des riesigen Architekturbüros ausgerechnet sie, die kleine Praktikantin zur Frau an seiner Seite erwählte. Und er war so überzeugt von der Richtigkeit seines Tuns, dass er sie einfach mit sich riss wie ein wilder Strom eine willenlose Nussschale. Beim Richtfest der Turnhalle, an der sie mitarbeiten durfte, küsste er sie heimlich zwischen den Dixi-Klos der Bauarbeiter. Und er küsste gut und leidenschaftlich, das konnte Agnes nicht bestreiten. Zuerst glaubte sie tatsächlich, sie sei für ihn eine unbedeutende Liaison – alle Mitarbeiterinnen himmelten ihn schließlich an. Aber dann stellte er sie tatsächlich seiner Familie vor. Ihm wäre es am liebsten gewesen, wenn sie sofort die Pille abgesetzt und ihn geheiratet hätte, doch sie konnte ihm zumindest abringen, dass sie zuerst noch ihr Studium ordentlich abschloss. Hans hatte die Tage bis dahin in einem Kalender abgezählt.

Agnes konnte nicht mehr auf dem Rücken liegen und drehte sich auf die Seite. Warum hatte sie nicht damals schon die Notbremse gezogen? Er hatte ja ganz klare Tendenzen von Herrschsucht und unkontrollierten Gefühlsausbrüchen gezeigt. Und spätestens nach der Amberg-Geschichte hätte sie doch wissen müssen, was sie in der Zukunft mit Hans erwarten würde …

Ausgerechnet über ihren ersten Jahrestag war vom Lehrstuhl für Baugeschichte eine Pflichtexkursion angesetzt worden. Hans zeigte sich schrecklich enttäuscht, denn er hatte bereits für den Abend im Aubergine einen Tisch reserviert. Doch wenn Agnes an der Exkursion nicht teilnahm, würde sie ihr Diplom um ein Semester verschieben müssen. Darum ließ sich Hans schließlich darauf ein, ihr romantisches Dinner zu vertagen.

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