Wer alles weiß, hat keine Ahnung by Horst Evers

Wer alles weiß, hat keine Ahnung by Horst Evers

Autor:Horst Evers [Evers, Horst]
Die sprache: deu
Format: epub
ISBN: 9783644007703
Herausgeber: Rowohlt E-Book


Frühkindliche Erziehung

Markus erzählt von einem Kinderladen in Rheinland-Pfalz, in dem die Kinder unter anderem auch Chinesischunterricht bekommen beziehungsweise bekamen. Denn als vor kurzem tatsächlich mal eine der Familien mit ihrem Kind in China war, stellte sich heraus, dass keiner der Chinesen das Kind verstand. Auf Nachfrage und Nachforschung hin ergab sich, dass die Lehrerin aus Kambodscha war und den Kindern Kambodschanisch, also Khmer beigebracht hatte. Anderthalb Jahre lang wurde das weder in dieser Kita bemerkt noch in anderen Institutionen, an denen sie unterrichtete.

In China, berichtete die Familie später, wären sie bei dem Versuch, sich mit dem vermeintlichen Chinesisch der Tochter durchzuschlagen, beinahe verzweifelt. Als die Tochter daraufhin begann, in einem breiten Pfälzisch zu schimpfen, habe sie sich doch irgendwie verständlich machen können. Offensichtlich ist das Pfälzische dem Chinesischen wohl wesentlich ähnlicher als das Kambodschanische. Also zumindest vom Lautmalerischen her.

So etwas hätte meinen Eltern nie passieren können. Denn Dinge wie musikalische Früherziehung, Sportförderung oder privater Fremdsprachenunterricht waren für sie in etwa so exotisch wie Materie-/Antimaterie-Antrieb, Quantentheorie oder Intimpiercings. Wobei, fairerweise sollte ich erwähnen, dass mein Vater zum Bereich Intimpiercing tatsächlich mal eine Meinung geäußert hat. Es geschah, nachdem ich zufällig dabei sein durfte, wie er einen wirklich sehr ausführlichen, expliziten Fernsehbericht zu diesem Thema recht interessiert verfolgt hatte. Bis zum Schluss. Ohne auch nur ein Mal umzuschalten. Die ganze Zeit schweigend. Dann machte er den Fernseher aus und sagte nach kurzem Nachdenken zwei höchst erstaunliche Sätze. Nämlich:

«Ach, ich glaube, unterm Strich bringt das gar nicht so viel.» Wirkungspause. «Also meines Erachtens ist da die Enttäuschung aber schon vorprogrammiert.»

Was in unserer Familie zur stehenden Redewendung wurde. Nicht nur für Fragen rund ums Intimpiercing. Natürlich, denn dieser Satz passt zu vielem. Im Prinzip ja auch zur Quantentheorie und dem Materie-/Antimaterie-Antrieb.

In meiner Kindheit hat die Früherziehung also noch andere Schwerpunkte gesetzt. Statt in Chinesisch unterrichteten mich meine Eltern rechtzeitig und mit großer Hingabe in Enttäuschung. Schon im Alter von zehn Jahren war ich eigentlich mit allen gängigen Spielarten der Enttäuschung vertraut. Bis heute halte ich meine Fähigkeit, routiniert mit Enttäuschungen umzugehen, für einen der größten Schätze, den mir meine Eltern mitgegeben haben.

Neben dem klassischen Dreiklang der frühkindlichen Enttäuschungsschule («Es geht nicht immer nach deinem Willen»/«Du kannst nicht alles haben»/«Wer es nie schlecht hatte, kann das Gute nicht schätzen») ging es meinen Eltern aber auch um die übergeordnete Philosophie der fatalistischen Lebensplanung. Während heutige Erziehungsberechtigte ihren Kindern meist den Satz «Du kannst alles erreichen, alles tun!» als Lebensgefühl vermitteln wollen, impften mir meine Eltern eher ein: «Dir kann alles passieren! Da machste nix.»

Selbstverständlich passieren einem im Leben sehr viel mehr schlechte als gute Dinge. Zumindest laut meiner Mutter. Um das, was mir zustößt, als größtenteils gut zu empfinden, hätte ich es ja nie schlecht genug gehabt. Doch das, daran haben meine Eltern keinen Zweifel gelassen, war wirklich nicht meine Schuld. Es steht ohnehin außer Frage, dass sie es sehr gut gemeint und vergleichsweise ordentlich gemacht haben. Das nur der Vollständigkeit halber.

Was einem nun im späteren Leben tatsächlich mehr nützt, also Chinesisch sprechen und Geige spielen



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