21 Gründe, warum eine Frau mit einem Mann schläft. Erzählungen by Doris Lerche

21 Gründe, warum eine Frau mit einem Mann schläft. Erzählungen by Doris Lerche

Autor:Doris Lerche [Lerche, Doris]
Die sprache: deu
Format: epub
ISBN: 9783105607497
Herausgeber: FISCHER E-Books
veröffentlicht: 2015-12-27T16:00:00+00:00


Am Nachmittag, sie hatte gerade die Küche gewischt, klingelte es. Sie öffnete arglos.

Als der Mann vor ihr stand im abgenutzten Popelinemantel und sie anschaute, da wurde ihr schockartig bewußt, wie sie aussah: ungeschminkt, die graudurchwirkten Locken nachlässig mit zwei Kämmchen hochgesteckt, damit sie ihr beim Putzen nicht ins Gesicht fielen, schlotterige Hosen und ein ausgewaschenes Sweatshirt. Am liebsten hätte sie vor Scham die Tür zugedrückt. Angst hatte sie seltsamerweise nicht, obwohl sie ja ganz allein in der Wohnung war und ihn nicht kannte. Aber wie hypnotisiert trat sie zurück und ließ ihn ein.

»Ich muß mich umziehen.« Sie zog die Kämme aus dem Haar. »Ich sehe furchtbar aus.« Mit gespreizten Fingern versuchte sie ihre Frisur aufzuplustern.

»Sie gefallen mir«, sagte er. »Ich beobachte Sie seit dem Sommer. Ich arbeite dort.« Er trat ans Fenster und deutete auf die Baustelle mit ihren hohen Gerüsten. »Ich bin Bauleiter und überwache mehrere Baustellen in der Stadt. Von da oben«, sagte er, »kann man direkt in Ihre Wohnung gucken. Sie haben ja nirgends Gardinen. Sie sind viel zu Hause. Bei Sonnenschein sah ich Sie oft das Bettzeug über die Balkonbrüstung werfen. Jedesmal stoben die Tauben vor Schreck von den Fenstersimsen.«

Sie ging vor ihm her ins Wohnzimmer, räumte nervös Staubsauger und Wischeimer beiseite, das helle Licht störte sie.

»Was gefällt Ihnen an mir?«

Er sog einen Luftstrom durch die Nase ein: »Mir gefallen Ihre ernsten Augen, die schnell feucht werden.«

Sie standen sich gegenüber, mitten im Raum, sein spitzer Adamsapfel zuckte. »Ich wäre gern Musiker geworden«, er öffnete seine groben Hände, drehte sie traurig, lachte kurz auf und ließ sie fallen, »nun bin ich beim Bau gelandet.«

»Was gefällt Ihnen an mir?«

Er nahm sich Zeit, sie zu betrachten, er sah sich alles an, was nackt an ihr war: Gesicht, Haar, Hals, Hände. Sie spürte sich pulsieren unter seinem verweilenden Blick: »Was gefällt Ihnen an mir?«

Da begann er lächelnd zu schwärmen von ihren rundlichen Wangen, dem widerspenstigen Haar, dem energischen Mund. »Ich bin das Herumstreunen leid. Ich suche einen Ort zum Bleiben …« Sie soff seine Worte wie eine Verdurstende.

Er stand dicht vor ihr, ein alternder Mann mit gelben Zähnen, riesigen Ohren und einer lächerlichen männlichen Scharte im Kinn. Er sucht eine Pflegerin fürs Alter, dachte sie, eine Putzfrau, einen ruhigen Pol, etwas Warmes fürs Bett, und zufällig kam ich vorbei.

»Was gefällt Ihnen an mir?«

Er strich ihr mit dem Zeigefinger über die Wange: »Ihre Hartnäckigkeit.«

Der einzementierte Vogel zitterte in ihrer Brust. Sie zog den Staubsauger aus der Ecke: »Ich lebe ruhig mit meinem Sohn. Ich bin zufrieden. Ich will nicht die Aufregungen der Liebe. Ich mache gerade auf dem Abendgymnasium mein Abitur nach. Ich will studieren. Die Liebe bringt alles durcheinander …«

»Nicht, wenn sie erwidert wird.«

Sie stöpselte den Stecker in die Steckdose. »Sie sind weltfremd.«

»Sie waren verheiratet?«

»Lange her.«

Sie drückte den Schalter, der Staubsauger heulte auf, und sie begann ihn ruhig vor sich herzuschieben.

Da traf sie eine Berührung im Nacken, etwas mehr als ein Hauch und schon vorbei, aber das Leben schoß in ihren Körper, daß sie den Staubsauger festhalten mußte, um nicht außer sich zu geraten.



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