Worüber müssen wir nachdenken?. Was die führenden Köpfe unserer Zeit umtreibt by John Brockman
Autor:John Brockman [Brockman, John]
Die sprache: deu
Format: epub
ISBN: 9783104031347
Herausgeber: FISCHER E-Books
veröffentlicht: 2015-04-25T16:00:00+00:00
Haim Harari
Technologien könnten die Demokratie gefährden
Physiker; ehemaliger Präsident des Weizmann-Instituts für Wissenschaften; Autor von A View from the Eye of the Storm: Terror and Reason in the Middle East
Die Wissenschaft ist Quelle zahlreicher Lösungen für medizinische, soziale und wirtschaftliche Probleme. Sie ist auch ein unglaublich aufregendes und schönes intellektuelles Abenteuer. Sie führt zu neuen Technologien, die unser Leben verändern, und zwar oft zum Besseren. Könnten diese Technologien die Grundlagen der liberalen Demokratie gefährden? Das mag zwar verrückt klingen, doch sollten wir uns alle darüber Sorgen machen. Es ist eine wirkliche Bedrohung, die jeden denkenden Menschen beunruhigen sollte, wenn er oder sie glaubt, dass die Wissenschaft die Menschheit voranbringen kann und dass die Demokratie das am wenigsten schlechte Regierungssystem ist.
Ein ernsthaftes Missverhältnis entsteht allmählich, Schritt für Schritt, zwischen zwei Dingen, die anscheinend nichts miteinander zu tun haben: dem Eindringen von Wissenschaft und Technologie in alle Bereiche unseres Lebens und der liberalen Demokratie, wie sie in der gesamten freien Welt praktiziert wird. An sich sind Wissenschaft und Technologie weder gut noch schlecht; es ist der Gebrauch, den wir davon machen, der zu weitreichendem Nutzen oder negativen Ergebnissen führen kann. Ihre Anwendungen sind häufig geplant und überlegt, aber manchmal auch unbeabsichtigt und zufällig. Der sich entwickelnde Konflikt zwischen den Folgen moderner Technologie und dem Überleben der Demokratie ist zwar unbeabsichtigt, birgt aber große Gefahren.
Wir können sieben Bestandteile dieses gärenden Problems darlegen:
Erstens ein Missverhältnis von Zeitskalen. Viele Probleme, denen Entscheidungsträger gegenüberstehen, werden komplexer – multidisziplinär, global, generationenübergreifend. Bildungssysteme, Forschungspolitik, soziale Sicherheit, geopolitische Trends, Krankenversicherung, Umweltprobleme, Pensionierungsmuster – all diese Dinge finden auf einer Zeitskala von Jahrzehnten statt. Die Zeitdifferenz zwischen Erörterung und Entscheidung, Durchführung und Folgen wird dank unserer wachsenden Fähigkeit zur Analyse langfristiger globaler Effekte sowie einer längeren Ausbildung, Arbeitsdauer und Ruhestandszeit der Durchschnittsperson größer. Andererseits ist der Zeithorizont von Politikern immer die nächste Wahl – irgendetwas zwischen zwei und sieben Jahren. Während die moderne Technologie zu längeren Zeitskalen bei Problemen führt, erzeugt sie augenblickliche Onlinebewertungen für die Beliebtheit regierender Amtsinhaber und drängt sie zu kurzfristigen Lösungen. Wir leben zwar länger, denken aber kürzer.
Der zweite Bestandteil ist eine weitere Art von zeitlichem Missverhältnis. Twitter, SMS, Internetkommentare oder »Talkbacks« und ähnliche Einzeiler lassen die alten, oberflächlichen 60-Sekunden-Fernsehnachrichten wie eine Ewigkeit erscheinen. Aber echte öffentliche Probleme können nicht durch O-Töne zusammengefasst werden. Dadurch werden Extremismus und Oberflächlichkeit gefördert und Politiker beinahe gezwungen, sich in den üblichen 140 Zeichen von Twitter auszudrücken, anstatt in 140 Zeilen oder 140 Seiten eines anständigen Positionspapiers. Die Wähler werden nur mit ultrakurzen Slogans bedacht, während die jüngere Generation zum Homo neo-brevis wird: die nächste evolutionäre Phase der menschlichen Rasse mit einer kurzen Aufmerksamkeitsspanne, einer Vorliebe für Einzeiler und schmalen Fingern für das Smartphone.
Das dritte Problem ist die wachsende Bedeutung wissenschaftlicher Bildung und quantitativen Denkens für Entscheidungsträger. Die heutige Welt konfrontiert uns mit Energiefragen, neuen Medien, genetischer Manipulation, pandemischer Grippe, Wasserproblemen, Massenvernichtungswaffen, Finanzderivaten, Erderwärmung, neuen medizinischen Diagnoseverfahren, Cyberkriegen, geistigem Eigentum, Stammzellen und zahlreichen anderen Wandlungen, mit denen Leute nicht umgehen können, die keine wissenschaftlichen Argumente, begleitet von einfachen quantitativen Erwägungen, verstehen.
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