Wir sind jetzt hier by Björn Kuhligk; Tom Schulz
Autor:Björn Kuhligk; Tom Schulz [Kuhligk, Björn; Schulz, Tom]
Die sprache: deu
Format: epub
Tags: Roman
ISBN: 978-3-446-24558-7
Herausgeber: Carl Hanser Verlag
veröffentlicht: 2013-12-31T16:00:00+00:00
PRIORT
Zieh den Kürzeren!
Das Stellmacherhäuschen ist an Baufälligkeit nicht zu übertreffen! Das ehemalige Bahnhofsgebäude eine Ruine! Die Verwahrlosung im öffentlichen Raum nicht zu überbieten, seit die Deutsche Bahn ein gemeines Gewinnunternehmen geworden ist!
Als ich schon einmal hier war vor fast fünfundzwanzig Jahren, war dies noch anders. Alles war ein wenig marode, aber noch nicht total kaputt. Bei diesem Satz steht man sofort unter Nostalgieverdacht. Die Scheiben waren noch nicht eingeschlagen. Am Bahnhofshäuschen konnte man an die Tür klopfen, und jemand öffnete, sogar nachts. Heute ist der schmale Bahnsteig mit den sterilen Schildern der Deutschen Bahn ganz und gar verlassen. Personal gibt es keines mehr. Es herrscht Rauchverbot an diesem Unort. Die Fahnen wehen sprachlos, klirren und klappern.
In einer recht kühlen Herbstnacht des Jahres 1989 fuhr ich mit dem Gefreiten Wedell im letzten Regionalzug vom Berliner Ostbahnhof nach Wildpark West. Hier verbrachten wir im »Kommando der Landstreitkräfte« unseren Ehrendienst bei der NVA, wie es offiziell hieß. Wir waren schwarz in den Ausgang gefahren oder hatten uns einen Schein besorgt, mit dem wir bis vierundzwanzig Uhr das Objekt verlassen durften. Wir fuhren jede zweite Woche auf ein Konzert, das in einem Berliner Jugendclub stattfand. Es spielten einheimische Punk- und New-Wave-Bands, die Kaltfront, Die Skeptiker oder Feeling B hießen. Die sich Die Anderen nannten oder Ornament und Verbrechen. Manchmal gingen wir auch in das HDJT hinterm Alex in der Klosterstraße. HDJT hieß Haus der Jungen Talente. Aber niemand sprach es aus. Man nannte es einfach HDJT. Wir tranken billigen Rotwein oder Rum mit Cola. Wir tanzten, wenn es die Musik zuließ. Wurden betrunken, quatschten andere an, die wie wir ganz in Schwarz gekleidet herumliefen. Schließlich waren wir empfindsam und pessimistisch und sahen in Schwarz gekleidet gut aus, ohne zu den Gruftis zu zählen. Wir sahen vor uns das Nichts und hinter uns das Nichts. Und mittendrin nur uns. Der Gefreite Wedell stammte aus dem thüringischen Arnstadt und schrieb wie ich Gedichte. Er trank gerne Feierabendbier und Whisky, so dass wir schnell ziemlich beste Freunde wurden. Nach dem Dienst lasen wir uns unsere Gedichte vor und träumten von Veröffentlichungen und Preisen. Die meiste Zeit war der Gefreite Wedell unglücklich verliebt, oder ein Mädchen hatte sich gerade von ihm getrennt. Er schrieb noch traurigere Gedichte als ich, der ich nicht einmal wusste, in wen ich mich hätte verlieben sollen. Ich hatte es geschafft, ein paar Mädchen abzuwimmeln, die mir nicht sonderlich gefielen, und war schüchtern genug, um die, die mir gefielen, partout nicht anzusprechen. Abends saßen wir auf unserer Bude im Kommando der Landstreitkräfte, hörten traurige Musik und rauchten. Schrieben ein noch traurigeres Gedicht als am Vortag. Oder wir kletterten über den Zaun und gingen ins Offizierskasino, tranken Bier und dachten an das Ende der Welt und den Anfang großer Abenteuer. Der Gefreite Wedell erzählte mir von einem Mädchen, in das er verliebt sei. Die nicht wisse, ob sie auch in ihn verliebt sei. Oder sich von ihm trennen solle, bevor sie ein Paar würden.
So vergingen die Wochen, und erst jener sagenhafte 9. November sollte uns aus unserem Schmerz wecken.
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