Wer wir sind - Die Erfahrung, ostdeutsch zu sein by Wolfgang Engler & Jana Hensel

Wer wir sind - Die Erfahrung, ostdeutsch zu sein by Wolfgang Engler & Jana Hensel

Autor:Wolfgang Engler & Jana Hensel [Engler, Wolfgang & Hensel, Jana]
Die sprache: deu
Format: epub
Tags: autobiografisches Material, DDR, Journalismus, Lebenserfahrung, Politik, Gesellschaft, sozialer Umbruch, Populismus
ISBN: 9783841216410
Herausgeber: Aufbau
veröffentlicht: 2018-01-25T05:00:00+00:00


VII. Verlust und Wiederaneignung. Über ostdeutsche Diskurse

Jana Hensel: Die Aneignung einer Lebensphase ist durchaus möglich, wenn sich die eigene Erinnerung und fremde Perspektiven widersprechen. Dieser Widerspruch kann sogar produktiv machen.

Wolfgang Engler: Die Ostalgieshows verströmten Aasgeruch. Die komödiantische Vergangenheitsbetrachtung hingegen bedeutete einen Fortschritt in der öffentlichen Selbstverständigung über die Nachwendezeit.

Wolfgang Engler: In einem kleinen Text, »Ein soziologischer Selbstversuch« betitelt, versucht Pierre Bourdieu herauszufinden, wie er zu dem wurde, der er als einer der einflussreichsten Intellektuellen seiner Zeit geworden war.

Jana Hensel: Wie denn?

WE: Es war ihm nicht in die Wiege gelegt. Er kam nicht aus Paris, aus keinem Elternhaus, das ihn für seinen Werdegang prädestiniert hätte, gehörte nicht zur geistigen Szene, die seit je das öffentliche Wort führte. Er musste sich von seiner Herkunft abstoßen, um seinen Weg zu gehen. In der Pariser Gesellschaft sprach man anders, kleidete sich anders, ging anders miteinander um, trat anders auf. Jemand, der von Haus aus nicht dazugehörte, wurde sogleich erkannt. Gab sich Mühe, das zu verbergen, so gut es ging. Nahm die Sitten, die Umgangsformen, die dort herrschten an, spielte sich in sie hinein wie Julien Sorel, der tragische Held in Stendhals Jahrhundertroman »Schwarz und Weiß«. Verleugnete seine Vorgeschichte, übte so etwas wie Klassenverrat. Die zentrale Frage Bourdieus in diesem Text, die auch Eribon in seinem Buch aufgreift, lautet: Wie eignet man sich wieder an, was man von sich abgespalten hatte? Indem man bewusst mit seiner Herkunft bricht, lautet beider Antwort. Von einer Seite des Bruchs zurück auf die andere blickt, vom Nachher auf das Vorher. Indem man die geistigen Werkzeuge, die man sich durch den Bruch erworben hat, benutzt, um sich ohne Selbstverleugnung, ohne Selbstüberhebung in den Menschen hinzuversetzen, der man einmal war. Um die Welt, der man entstammte und in gewisser Weise entkam, ihre Üblichkeiten, Normen und Regeln, wenn schon nicht wertzuschätzen, so doch zu begreifen und ihr Recht wiederfahren zu lassen. Was für Bourdieu, Eribon und viele andere sozial »Abtrünnige« eine außergewöhnliche persönliche Anstrengung bedeutete, die Fremdheit ihrer Herkunft gegenüber zu thematisieren, fiel den Ostdeutschen sozusagen in den Schoß. In den Schoß ihrer eigenen kollektiven Abstoßung von ihrer vormaligen Lebenswirklichkeit. Wie aber schaut man auf seine Vergangenheit, wenn man durch einen historischen Bruch, den man selbst mit bewirkt hat, von ihr getrennt ist?

JH: Daraus entsteht Melancholie, glaube ich, Traurigkeit auch, man gerät ins Grübeln, nicht nur, weil durch Systembrüche immer auch Schweigeräume entstehen. Sondern weil das Bisherige auf den Prüfstand gestellt wird, nach Bilanzierung ruft. Härter und unnachgiebiger vielleicht, als wenn einfach nur Zeit vergeht, Zäsuren weniger spürbar sind und meist erst Jahre später als solche erkannt werden können. Durch historische Brüche jedoch ist den Dingen fortan, ganz neutral formuliert, eine tiefe Vergeblichkeit eingeschrieben, weil man einmal erlebt hat, wie schnell alle Vereinbarungen ausgetauscht und erneuert werden können, weil viele Werte sich buchstäblich über Nacht in ihr Gegenteil verkehren können.

WE: Der Einschnitt von 1945 ist zugleich ähnlich und anders gelagert. Da wurde der Bruch von außen herbeigeführt. Die große Mehrheit erlebte ihn als Niederlage, als Zusammenbruch, nicht als Akt der Befreiung, der auch den Blick auf den gerade vergangenen Geschichtsabschnitt öffnete.



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