Welche Zukunft wollen wir? by Walter Kohl
Autor:Walter Kohl
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: Verlag Herder
veröffentlicht: 2020-01-22T16:00:00+00:00
Gleichzeitig forderte Kirchhof die dreistellige Zahl an Ausnahmetatbeständen zu streichen und durch Pauschalen und wenige Ausnahmeregelungen, beispielsweise für Familien, zu ersetzen.
Ich denke, dass wir eine radikale Vereinfachung unseres Steuersystems angehen müssen, einerseits um den Bürokratieabbau voranzubringen und andererseits um gesellschaftliche Effekte wie mehr Gerechtigkeit und die Chance für einen Vermögensaufbau breiter Bevölkerungsschichten zu erzielen. Im Grundsatz halte ich diese durchaus radikalen Vorschläge von Professor Kirchhof auch heute noch für richtig und wünsche mir den Mut von Entscheidern, hier mit Entschlossenheit aktiv zu werden.
Primärziel eines Steuersystems ist nicht perfekte Einzelfallgerechtigkeit, sondern Nachvollziehbarkeit und Berechenbarkeit für Bürger und Unternehmen. Ein Steuersystem muss die Zukunftsfähigkeit eines Landes unterstützen, die Meisterung der Herausforderungen erleichtern und darf kein aus einer »Haben wir schon immer so gemacht«-Haltung gefüttertes Bürokratiemonster sein. Mit einer Fundamentalreform entlang der Kirchhofschen Linien wären diese Ziele weitgehend zu erreichen. Leider scheiterte im Jahr 2005 diese Reform an ihrer politischen Dämonisierung im Bundestagswahlkampf und dem mangelnden Reformwillen der Regierungsverantwortlichen.
Eine solche Steuerreform wäre jedoch nicht in allen Einkommensklassen gleichermaßen wirksam. Am unteren Ende der Einkommensverteilung werden bereits heute so gut wie keine Steuern vom Lohn abgezogen, entsprechend gering ist der fiskalpolitische Spielraum, um Möglichkeiten zur Absicherung gegen Altersarmut zu schaffen. Daher plädiere ich für eine deutliche Anhebung des Mindestlohns in Deutschland.
Ein Mindestlohn von demnächst 9,35 Euro die Stunde reicht in Deutschland vielerorts nicht aus, um über dem Existenzminimum zu leben. Es ist volkswirtschaftlich unsinnig, Löhne so sehr zu dämpfen, dass mittel- und langfristig ein Prekariat entsteht, das dann durch teure, vom Steuerzahler finanzierte Sozialmaßnahmen wieder aufgefangen werden muss. Es ist paradox, einen niedrigen Mindestlohn zu fordern, der dann absehbar zu Altersarmut führt. Es kann kein Beispiel guter Ordnungspolitik sein, dass die anfänglichen Lohnvorteile eines niedrigen Mindestlohns für Unternehmen später durch die Allgemeinheit in Form von erhöhten Sozialausgaben wieder aufgefangen werden müssen.
Hier muss zwar das Argument, dass Arbeitsplätze durch einen zu hohen Mindestlohn vernichtet werden, berücksichtigt werden. Schließlich folgt aus einem höheren Lohn, also einem höheren Preis für Arbeit, in der volkswirtschaftlichen Orthodoxie eine geringere Nachfrage nach dieser. Im Gegenzug muss aber auch diskutiert werden, ob es sinnvoll ist, weiterhin Formen der Vollzeitbeschäftigung zuzulassen, die keine ausreichende Existenzgrundlage bieten. Abgesehen von der menschlichen Dimension halte ich das nämlich auch für ordnungspolitisch falsch. Entsprechend sollten Mindestlöhne auf ein Niveau angehoben werden, welches nach 45 Jahren Vollzeitbeschäftigung jede Form von Altersarmut ausschließt. Nach einer Einschätzung des Bundesarbeitsministeriums aus dem Jahr 2018 liegt dieser Betrag bei einem Stundenlohn von 12,63 Euro.77 Als überzeugter Marktwirtschaftler, Unternehmer und CDU-Mitglied halte ich es für einen Fehler diese Debatte entlang ideologischer Gräben aufzuladen und rentensichernde Lohnpolitik für »links« zu erklären. Berücksichtigt man die Anpassung durch Inflation, plädiere ich daher für die Einführung eines Mindestlohns von 13 Euro pro Stunde.
Ein weiterer Aspekt sind die teilweise erheblichen regionalen Unterschiede der Lebenshaltungskosten, insbesondere der Mieten. Die Kosten liegen in Großräumen wie München, Berlin oder dem Rhein-Main-Gebiet deutlich über den Kosten in vielen ländlichen Räumen. Daher stellt sich die Frage, ob ein bundesweiter Basismindestlohn mit Zuschlägen für definierte Ballungsräume eine Lösung sein könnte, ähnlich dem Prinzip der kommunalen Hebesätze, wie es in der Gewerbesteuer Praxis ist.
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