Von Achtsamkeit bis Zuversicht by Walter Rudolf
Autor:Walter, Rudolf
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: Verlag Herder GmbH
veröffentlicht: 2017-02-19T16:00:00+00:00
Konfliktfähigkeit
Spannungen dürfen sein
Von Martin Werlen
„Das Leben wäre so schön, wenn es keine Konflikte gäbe!“ Immer wieder steht diese Aussage unausgesprochen im Raum. Selbstverständlich wissen wir aus Erfahrung alle zur Genüge, dass Konflikte zu unserem Leben gehören. Hoch-Zeiten sind nicht der Alltag unseres Lebens. Aber so oft sehen die Konflikte ganz anders aus, als wir sie uns vorgestellt haben. „Muss das wirklich sein?“, so fragen wir uns bei Konflikten sowohl mit uns selbst als auch mit anderen.
Die große Frage ist nicht, ob es Konflikte gibt oder nicht, sondern wie wir damit umgehen. Ein erster wesentlicher Schritt jeder guten Konfliktbewältigung ist das Wahrnehmen und Akzeptieren von Konflikten. Was ich nicht sehe und annehme, kann ich auch nicht bewältigen. Konflikte dürfen sein.
Es erstaunt, mit welcher Offenheit in der Bibel über Konflikte gesprochen wird. Die Botschaft ist klar: Konflikte gehören zu unserem Leben und sie dürfen sein. Gott spricht Konflikte schonungslos an. Ein herausragendes Beispiel dafür sind die Propheten. In ihnen begegnen wir Menschen, die sich den Konflikten stellen. Fast alle Bücher des Neuen Testaments berichten von heftigen Konflikten und deren Bewältigung. Auch der hl. Benedikt stellt sich in seiner Mönchsregel mit größter Selbstverständlichkeit den Konflikten. Jesus selbst und seine Anhänger sind offensichtlich konfliktfreudige Menschen.
Umso auffälliger ist es, dass heute gerade bei Christinnen und Christen – ob mit oder ohne Amt – oft eine große Hilflosigkeit gegenüber Konflikten zu beobachten ist. Ein Konflikt in der Kirche kann sehr wohl Auslöser für einen Kirchenaustritt sein. In der Kirche soll offenbar alles konfliktfrei zu- und hergehen.
Nicht selten scheint es, dass „christlich“ und „konfliktfrei“ gar als Synonyme gebraucht werden. Das menschliche Bedürfnis nach Harmonie wird allzu oft undifferenziert mit dem Attribut „christlich“ versehen. Wo eine Grenzziehung vorgenommen wird oder eine vielleicht abschreckende Forderung von Seiten der Kirche ausgesprochen wird, wittert man sofort einen Verrat christlichen Handelns. Droht das Idealbild des christlichen Glaubens damit nicht zu einer konfliktfreien Kuschelecke zu werden, die es in der Wirklichkeit unseres Lebens nun einmal nicht gibt?
Es war ganz klar ein Herzensanliegen Jesu Christi, dass seine Jüngerinnen und Jünger eins sind. Daneben gibt es ein anderes Herzensanliegen: dass die Treue gewahrt bleibt. Zwischen diesen beiden Herzensanliegen kann es immer wieder Konflikte geben. Das Herzensanliegen der Treue war für die Kirche von Anfang an so zentral, dass sie bei dessen Gefährdung sehr wohl eine schmerzhafte Spaltung in Kauf nahm. Jesus scheute sich nicht, solche Konflikte auszustehen. Ein herausragendes Beispiel dafür findet sich im Anschluss an die sogenannte Brotrede im Johannesevangelium. Die Reaktion seiner Zuhörer ist klar: „Was er sagt, ist unerträglich. Wer kann das anhören?“ (Joh 6, 60). Die Konsequenzen blieben nicht aus: „Daraufhin zogen sich viele Jünger zurück und wanderten nicht mehr mit ihm umher. Da fragte Jesus die Zwölf und fragte sie: ‚Wollt auch ihr weggehen?‘“ Viele heutige Christinnen und Christen würden wohl sagen, dass Jesus hier unchristlich gehandelt hat.
Wenn wir – bewusst oder unbewusst – in der Haltung leben, dass es Konflikte eigentlich gar nicht geben dürfte, werden wir dazu tendieren, sie zu verdrängen. Was nicht sein darf, das ist auch nicht! Doch jede Vogel-Strauß-Politik holt uns früher oder später wieder ein.
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