Verteidigung des Menschen by Thomas Fuchs
Autor:Thomas Fuchs
Die sprache: deu
Format: epub
Tags: Digitalisierung, KI, Leiblichkeit, Psychiatrie, Verkörperung
Herausgeber: Suhrkamp Verlag
veröffentlicht: 2020-08-15T00:00:00+00:00
Interpersonalität
Gänzlich abwegig wird die Identifizierung von Personalität und Gehirn, wenn wir die Person in ihrer konstitutiven Relationalität, also in ihren sozialen Beziehungen betrachten. Die Familien- und Verwandtschaftsverhältnisse eines Menschen, seine sozialen Rollen etwa des Geschlechts, Berufs oder Stands sind untrennbar mit dem Begriff der Person verbunden. Nicht zufällig entstammt der Begriff der Theaterwelt â ursprünglich bezeichnete persona bekanntlich die Maske oder Rolle im Theater und, davon abgeleitet, die Rolle eines Individuums in der Gesellschaft. Ob diese Relationalität wie etwa bei Buber oder Löwith radikal gefasst wird â das heiÃt, der Mensch wird überhaupt erst durch Teilnahme an sozialen Beziehungen zur Person â oder nur als ein zentrales Merkmal von Personalität gilt, in jedem Fall entzieht sich der Begriff einer Beschränkung auf das Individuum: »Personsein ist das Einnehmen eines Platzes, den es gar nicht gibt ohne einen Raum, in dem andere Personen ihre Plätze haben« (Spaemann 1996: 193). Personen gibt es nur im Plural. Und personale Identität beruht nicht auf einer selbstgenügsamen Innerlichkeit, sondern sie ist notwendig relationaler Natur: »Die Anderen brauche ich nicht erst anderswo zu suchen, ich finde sie innerhalb meiner Erfahrung« (Merleau-Ponty 1974: 166), nämlich in den Beziehungsmustern, Reaktionsweisen, Orientierungen und Präferenzen, die meine Persönlichkeit ausmachen.
Die intersubjektive Grundstruktur der Person gilt nun gerade auch für das Merkmal, das häufig als besonderer Beleg für ihre Individualität angesehen wird, nämlich das Selbstbewusstsein. Auch dieses ist eine Errungenschaft, die die Gemeinschaft und Interaktion mit anderen voraussetzt. »Ich bin nur in Kommunikation mit dem Anderen«, schreibt Jaspers; »ein einziges isoliertes Bewusstsein wäre ohne Mitteilung, ohne Frage und Antwort, daher ohne Selbstbewusstsein [â¦], es muss im anderen Ich sich wiedererkennen« (Jaspers 1973: 50, 55). Das gilt bereits für die Entwicklung in der 187frühen Kindheit: Im Verlauf des ersten Lebensjahrs lernt der Säugling zunächst zu begreifen, dass andere »wie ich« sind, und zwar indem er sie imitiert und vorsprachlich mit ihnen kommuniziert (Trevarthen 2001; Meltzoff/Prinz 2002). Sich auf diese Weise in anderen wiederzuerkennen, ist die Voraussetzung für die Fähigkeiten der Perspektivenübernahme und der eigentlichen Selbstreflexion, die das Kind im Lauf der weiteren praktischen und sprachlichen Interaktionen erwirbt: Es lernt, sich selbst mit den Augen anderer zu sehen (Tomasello 2002, 2009; Fuchs 2012a).
Diese interaktive Dynamik schlägt sich in der Struktur von Personalität bleibend nieder, insofern das entwickelte Selbstbewusstsein die Beziehungen mit anderen zwar verinnerlicht hat, aber Intersubjektivität doch immer als konstitutives Moment in sich enthält. Denn das Selbstverhältnis impliziert, sich aus der Perspektive des »generalisierten Anderen« (Mead 1973) zu sehen und mit sich selbst so zu sprechen, wie jemand anderes zu einem sprechen würde. In diesem Sinn hat schon Platon Gedanken verstanden als »das innere Gespräch der Seele mit sich selbst, was ohne Stimme vor sich geht« (Sophistes 263e). Perspektivenbeweglichkeit und Reflexionsfähigkeit sind also Resultat einer ursprünglich interaktiven Bewegung â gewissermaÃen ein organisierter Niederschlag von Interaktionserfahrungen. Insofern ist die Grundstruktur von Personalität nicht rein individualistisch oder substanzialistisch, sondern nur als dynamische, offene Struktur zu begreifen: Selbstbewusstsein ist ein »Selbstgespräch«, das implizit die anderen immer mit einbezieht. Es ist offensichtlich, dass diese komplexe, zugleich selbstbezügliche und
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