Unvollendete Geschichte by Braun Volker

Autor:Braun, Volker [Braun, Volker]
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: Suhrkamp Verlag
veröffentlicht: 2016-03-09T23:00:00+00:00

Spätabends hörte Karin ein Klingeln, das sich wiederholte; sie war hellwach. Die Mutter meldete sich am Telefon und schrie auf. Karin wußte im selben Augenblick: es war etwas passiert mit Frank, sie wußte es sofort, es war ihr vollkommen klar.

Sie lief bleich in die Diele hinab und fragte nur: Was hat er gemacht? – »Der hat den Gashahn aufgedreht.« Die Mutter gab ihr fahrig den Hörer in die Hand, er war naß. Karin vernahm den Alten aus einer Zelle an einer lauten Straße. Er fragte: ob sie nicht wisse, was es für Tabletten –? – Nein, sie habe nicht darauf geachtet! – Aber wieviel, wieviel? – Nein, sie wisse es nicht. Sie schämte sich. Es knackte im Telefon, sie lauschte noch hinein. Sie kam sich oberflächlich, dumm, unmenschlich vor. Sie hatte Frank liegenlassen, ohne wissen zu wolln, was weiter in ihm vorgeht! Ohne sich nur zu fragen. Oder jemandem was zu sagen, seiner Mutter – es war ihr nicht eingefalln. Sie legte, als sie merkte, daß nichts mehr zu hören war, den Hörer auf, lief in das Schlafzimmer, der Vater zog sich an. Sie sagte: Ich will sofort hin. Wenn du mich nicht fährst – ich komm allein hin. Oder ich geh zu Fuß. Aber vielleicht ists besser, wenn du mich fährst. Der Mann, indem er die Hosenträger hochzog, sagte in einem weichen, ganz kindlichen Ton: Mein Gott, mußte es soweit kommen. Sein Gesicht war grau, er tat ihr leid. Binnen Minuten saßen sie zu dritt im Wagen.

Sie sprachen unterwegs kein Wort. Die Mutter saß hinten, aber abgerückt, wie um zu zeigen, daß der Fall mit Karin nichts zu tun habe. Draußen Nacht. Karin starrte hinaus, nahm nichts wahr. Nur manchmal rückte die Kante eines Hauses dicht heran, oder die Bäume tauchten mit weißen erschreckten Gliedern vom Boden auf und langten über das Dach, als schlügen sie in den Wagen. Die Orte alle fremd. Dann wars ihr schrecklich, daß sie nicht allein fuhr; sie fühlte sich belästigt, sie würde Frank nicht ungestört betrachten können, gar nichts empfinden können. Ein hilfloser Zorn schlug in ihr hoch, daß ihr dies Letzte verdorben wurde und zerredet. Einmal als ein LKW aus einer Kurve bog und sein Licht blendend den Wagen füllte, hoffte sie, er werde sie alle zermalmen.

Um eins hielten sie am Krankenhaus. Karin sah plötzlich alles schmerzend genau und überdeutlich, wie in der ersten Reihe in einem Breitwandkino, nur wunderte sie sich, daß sie den Ton nicht hörte. Es war ein weitläufiger Bau aus den Gründerjahren, das massive Hauptgebäude durch Gänge mit den Pavillons verbunden. Der Pförtner, in einer schwach erleuchteten Loge, ein Regulator an der Wand (1 Uhr 13), ließ sie nicht durch, der Vater schien auf ihn einzuschrein. Der Pförtner rekelte sich und telefonierte in Zeitlupe, verschwand dann rückwärts aus der Loge. Der Vater zog sie rigoros die Treppe hinauf, die Stufen gaben nach, sie trat wie im Wasser und war bis zum Hals naß, sie hatte Mühe, Luft zu schnappen. Es ging in einen Korridor, ein langer Korridor, und an seinem Ende hinten lag da eine Gestalt, auf einer Fahrbahre, verbogen in einem weißen Laken.

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