Überlieferung: Das philologischantiquarische Wissen im frühen 18. Jahrhundert by Stephan Kammer

Überlieferung: Das philologischantiquarische Wissen im frühen 18. Jahrhundert by Stephan Kammer

Autor:Stephan Kammer
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: Walter de Gruyter
veröffentlicht: 2017-05-15T00:00:00+00:00


3.2 Ende der Überlieferung: Die Inventionen des Unvollständigen

Die anhand der ‚Beschreibung des Torso im Belvedere‘ aufscheinende Problemkonfiguration bleibt keine gegenstandsabhängige Ausnahme. Sie lässt sich für Winckelmanns antiquarischen Blick auf das materialiter Überlieferte generalisieren: In und an den steinernen Bildwerken kulminieren verschiedene objektbezogene Konfliktpotentiale der Unterbrechung, mit denen Winckelmann die übliche Referenz auf die Unvollständigkeit der Überlieferung erweitert und radikalisiert – dies, indem er sie zu einem Relais zwischen antiquarischem und ästhetischem Diskurs konfiguriert, an dem die ‚Übersetzbarkeit‘ der beiden Diskursmodi zugleich möglich und unmöglich wird.

(1) Das ungewisse Vorhandensein von Überlieferungszeugnissen allein bildet nur die eine Seite eines ersten, grundsätzlichen Problemhorizonts. Dazu kommt, diesen verschärfend, die Ungewissheit oder Unverlässlichkeit eines spezifischen Zuhandenseins: einer der antiquarischen und ästhetischen Interessen adäquaten Zugänglichkeit dieser Überlieferungszeugnisse.

(2) Des weiteren kann der Konnex zwischen stilgeschichtlich-ästhetischer und objektgeschichtlich-antiquarischer Datierung der Überlieferungszeugnisse in die Brüche gehen, sobald man die Frage nach der Provenienz gerade der griechischen Artefakte aus diesen beiden Erkenntnisperspektiven zugleich zu stellen beginnt: Mehr und mehr entpuppt sich gerade das, was der ästhetisch konfigurierte Blick als Zeugnis der ältesten Kunstepochen festhalten will, für den antiquarisch ausgerichteten als eine weit später verfertigte römische Kopie und damit, ähnlich wie die mittelalterlichen Handschriften antiker Texte, als Überlieferungszeugnis zweiter Stufe. Zu rechnen ist außerdem damit, dass eine Vielzahl von antiken Plastiken selbst durch Ergänzungen und Restaurationen zu überlieferungsgeschichtlichen Monstern geworden sind.

(3) Überdies droht die Möglichkeit, dass nicht nur die beiden Perspektivierungen divergieren, sondern beider Ansprüche sowie Voraussetzungen zugleich getäuscht werden: dass also die dokumentarischen Lücken zwischen den antiken fossilia nicht nur mit ergänzten Monstern, sondern mit gefälschten Chimären gefüllt werden. Die Wertschätzung der antiken Kunst, die im Laufe des 18. Jahrhunderts zu einem konjunkturellen Gipfel kommt, findet ihren Ausdruck schließlich nicht nur in Gelehrtenstuben und Künstlerateliers, sondern auch auf dem Markt und im kulturellen Kapital der Sammler. Entsprechend groß – beträchtlich größer als im Falle schriftlicher Überlieferungszeugnisse – ist deshalb das Risiko, dass sich illegitime Akteure und Objekte in die epistemischen Operationen der Antiquare mischen.934

(1) Das erste dieser Konfliktfelder erwächst aus den Gepflogenheiten des Sammelns in einer Epoche, in der sich die Konturen der modernen Institution Museum erst abzuzeichnen beginnen. Die zu Dresden in einem Gartenpavillon gelagerten „Schätze aus Italien“ etwa – die drei sogenannten Herkulanerinnen zählen dazu – sind keineswegs vollständig so „vor den Augen aller Welt aufgestellet“ und „den Künstlern zur Nachahmung […] gegeben“, wie der Eingang der Gedancken über die Nachahmung in seinem strategischen Fürstenlob behauptet (GN 29). In seiner Abhandlung von der Fähigkeit der Empfindung des Schönen, einer Programmschrift des autoptischen Erkenntnisdispositivs, verliert Winckelmann einige Jahre später deutliche Worte über die Disproportion zwischen ökonomisch-repräsentativer und ästhetischer Wertschätzung. Besitz und Präsentation stehen in einem Maße im Konflikt, dass sich der Akzent auf das Statuentrio aus Herkulaneum in der Nachahmungsschrift unversehens in einen Zufallseffekt der unvollständigen Zugänglichkeit der Dresdner Antiken zu verwandeln scheint:

Der größte Schatz von Alterthümern befindet sich zu Dreßden: es bestehet derselbe aus der Gallerie Chigi in Rom, welche König Augustus mit 60,000 Scudi erstand, und denselben mit einer Sammlung von Statuen vermehrete, welche der Herr Cardinal Alex.



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