Thiemeyer, Thomas - Die Stadt der Regenfresser (CdW 1) by Thomas Thiemeyer

Thiemeyer, Thomas - Die Stadt der Regenfresser (CdW 1) by Thomas Thiemeyer

Autor:Thomas Thiemeyer [Thiemeyer, Thomas]
Die sprache: de
Format: mobi, epub
Herausgeber: babylon
veröffentlicht: 2012-07-02T22:00:00+00:00


30

Oskar schlug die Augen auf.

Wo war er?

Was war geschehen?

Er hob den Kopf und versuchte, sich zu orientieren. Warum konnte er nichts sehen? War er blind? Nein, da war Stoff vor seinen Augen. Fühlte sich an, als hätte man ihm einen Sack über den Kopf gezogen. Er versuchte ihn zur Seite zu schieben, aber es ging nicht. Irgendetwas hielt seine Arme und Beine gefangen. Sonnenstrahlen fielen durch den Stoff und berührten sein Gesicht. Die Luft im Inneren des Sacks war stickig und schwül. Er spürte, wie ein warmer Wind über seinen Körper strich. Pflanzenfasern scheuerten über seine Haut. Ihm war heiß und er schwitzte. Salzige Tropfen rannen über sein Gesicht.

Langsam, wie Sand in einem Stundenglas, kehrten die Erinnerungen zurück. Man hatte sie überfallen. Es war zu einem Handgemenge gekommen. Er hatte einen Schlag auf den Kopf erhalten und dann … nichts. Er versuchte, etwas zu sagen, aber man hatte ihm einen Knebel in den Mund geschoben. Seine Schultergelenke spannten. Eine leichte Pendelbewegung ließ ihn hin und her schwingen. Er spürte die Bewegung laufender Füße. Schlagartig wusste er, was mit ihm geschehen war. Er hing, Gesicht nach oben, wie ein erlegtes Reh an einer Stange, während er im Laufschritt abtransportiert wurde. Wo waren die anderen? Waren sie ebenfalls gefangen genommen worden? Hingen sie auch an Stäben, gefangen wie er?

Er versuchte, seine Hände freizubekommen, aber die Stricke schnitten ihm ins Fleisch. Er war kaum noch in der Lage, seine Fingerspitzen zu fühlen.

Die Geräusche um ihn herum waren vielfältig und verwirrend. Da waren zum einen die Schritte seiner Entführer, die über hölzerne Planken liefen. Bohlen knarrten und Seile spannten sich, während sie schwankenden Schrittes über Planken und Stege zu laufen schienen.

In Oskars Vorstellung entstand das Bild einer Stadt, die nur aus Brücken und Leitern bestand. Er musste an die Fotografie denken, an die schwindelerregenden Tiefen und die massigen Steilwände.

Die meiste Zeit hüllten sich seine Entführer in Schweigen. Ganz selten, dass er ein Wort aufschnappen konnte. Ihre Stimmen klangen, als würde der Wind über vertrocknetes Gras streichen. Oskar verstand kein Wort, meinte aber die Sprache zu erkennen, von der Charlotte ihm erzählt hatte. Ketschua, die Inkasprache.

Vereinzelt drang ein merkwürdiges Flattern an seine Ohren, das wie der Flügelschlag überdimensionierter Tauben klang. Es surrte über ihn hinweg, dann verlor es sich wieder in der Weite des Himmels. Er meinte sogar den Luftzug zu spüren, als das Luftfahrzeug über ihn hinwegstrich. Oskar erinnerte sich an die Fluggeräte auf Humboldts Fotoplatte, an Tragflächen, Steuerruder sowie aufgeblähte Säcke. Konnte das sein? Wurden sie tatsächlich in die Stadt in den Wolken gebracht?

Je weiter sie kamen, desto mehr begannen sich die Geräusche zu verändern. Ein feines Summen erfüllte die Luft. Es klang fast wie in einem Bienenstock. Erst leise, dann immer lauter werdend.

Nach einer Weile wurde ihm klar, dass es sich um Stimmen handelte. Unzählige, vielfältige Stimmen, manche höher, manche tiefer.

Schläge von Metall ließen den Boden erzittern. Das dumpfe Grollen gewaltiger Maschinen erfüllte die Luft. Rauch stieg ihm in die Nase. Es roch nach verbranntem Holz, nach Gewürzen, Kräutern und Fleisch. Das Stimmengewirr wurde lauter und lauter.



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