Tanz in die Freiheit by Betz Susanne

Tanz in die Freiheit by Betz Susanne

Autor:Betz, Susanne [Betz, Susanne]
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: C. Bertelsmann
veröffentlicht: 2016-08-29T07:32:51+00:00


Kapitel 8

Ende Juli – Anfang September 1792

Die Wirklichkeit verlangsamte und vergrößerte sich. Obwohl die Zeiten doch so irrwitzig schnell geworden waren. Mysteriös.

Vielleicht lag es an dem kuriosen Gas, das Lavoisier bei der Zerlegung der Luft entdeckt hatte. Als Erstes fielen mir seine Augen auf, hellbraun mit goldenen Punkten, die aufleuchteten und wieder verschwanden. Das Weiße um die Iris war so klar, dass Straßenlaternen überflüssig würden, wenn man nachts an seiner Seite ging. Das alles sah ich, obwohl der Fremde mindestens zwanzig Schritte entfernt von mir im stickigen, überfüllten Café du Caveau stand. Kellner mit Tabletts voller Gläser schoben sich an ihm vorbei, Gäste, die neu kamen oder gerade gingen. Er stand einfach da. Auf seiner Nase schuppte sich die Haut, die neue war rosa wie die eines Babys. War er hässlich oder schön? Groß oder klein? Seine Haare hingen wie eine von der Sonne ausgeblichene Pferdemähne auf seine Schultern. Oberstallmeister Josias von Stein, der Mann meiner Patentante, hätte den zuständigen Knecht auspeitschen lassen, wenn der die herzoglichen Pferde nicht besser gestriegelt hätte. Der Fremde schaute mich unverwandt an. Seine Nase, das sah ich genau, war ziemlich schief. Ich starrte zurück. Ein Spion? Geheimpolizist?

Paris wimmelte von solchen Typen, behauptete Olympe. Sie arbeiteten für und gegen die Revolution, für und gegen die Royalisten, die meisten allerdings für einen Flügel der Revolutionäre, der wiederum einen anderen bespitzeln und denunzieren ließ. Was ich aber ganz sicher spürte: Dieser Mann las keine Bücher, schon gar keine Romane oder philosophische Abhandlungen. Er warf auch nicht wie Felix und Oelsner Opernsängerinnen Blumensträuße auf die Bühne und fand nicht im Louvre-Museum mit verbundenen Augen den Weg zu Tizians Mann mit dem Handschuh, den mein Bruder so bewunderte. Er schien im Caveau, wo jeder jeden beim Namen kannte und zumindest umarmte, niemanden zu kennen. Und niemand im Caveau kannte ihn. Nach fünf Minuten verschwand der Fremde, und ich atmete ruhiger.

Den Rest des Abends flirtete ich mit Antoine de Saint-Just, der schräg gegenüber an unserem Tisch saß, ein politischer Schwärmer oder Radikaler oder beides. Auf jeden Fall witzig und attraktiv. Miss Williams erlaubte Oelsner, unterm Tisch seine Hand zwischen ihre vom vielen Reiten kräftigen Schenkel zu schieben. Ein Abgeordneter aus der Provinz erklärte meinem Bruder den aktuellen Stand der Vorbereitungen für das neue Wahlrecht. Felix war weniger zugeknöpft als sonst, regelrecht aufgedreht, lachte viel. Ich wunderte mich, freute mich aber. Dem Gespräch hörte ich nur mit halbem Ohr zu.

»Austern, wollte noch jemand Austern?« Ich nickte und ließ mir einen frischen Teller geben. Olympe und ich tuschelten über den Verbleib von Julies »Beschützer«, leider wusste auch sie nichts Neues. Der düstere Attaché von der amerikanischen Botschaft, der mir schräg gegenübersaß, beobachtete meinen Bruder. Er hatte verschnörkelt geformte Ohren, wie aus feinem Porzellan, fast ein Relikt aus dem Ancien Régime, fand Olympe. Dann noch die üblichen fünf, sechs Anwälte, Journalisten, Dichter an unserem Tisch. Außer mir schien der ungepflegte Fremde mit den braungoldenen Augen niemandem aufgefallen zu sein. Aber er hatte etwas in das Caveau gebracht, das ich jetzt beim Einatmen schmeckte. Energie, Tatkraft.



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