Radscha by Gisbert Haefs

Radscha by Gisbert Haefs

Autor:Gisbert Haefs [Haefs, Gisbert]
Die sprache: deu
Format: epub
Tags: Abenteuer, Asien, Himalaya, Indien
Herausgeber: Unionsverlag
veröffentlicht: 2016-01-11T00:00:00+00:00


10

Das Buch der Niedertracht

Die Blütezeit kam; die Vögel

ließen sich nieder, zu knabbern und zu essen.

Falken pflückten einige,

andere gerieten in Netze.

Manche wurden auf Spieße gesteckt.

Wer Beute des Schicksals ist, was soll der tun?

Bulleh Shah

Nach den durch Hofzeremoniell verschärften Strapazen des absurden Feldzugs empfand Saldanha den Roten Palast tatsächlich als so etwas wie die Zuflucht des Universums.

Der Kaiser, ein frommer Moslem, suchte Zuflucht im Koran; die kostbare Handschrift, angefertigt von persischen Kalligrafen zur Zeit von Aurangzeb, war sein Schanzwerk wider die Welt.

Die Damen des kaiserlichen zenana suchten Zuflucht in Musik, Dichtung und Gerüchten. Die besseren Hofbeamten suchten Zuflucht im Verwalten, immerhin ein Anschein von Regieren. Die gewöhnlichen Höflinge suchten Zuflucht in Ränken.

Saldanha suchte Zuflucht an verschiedenen Orten. Einer davon war eine Art Schwerpunkt, das tiefe Zentrum der verwitweten Fürstin Tamira. Und eigentlich war dies, wie er sich nach und nach zugab, der Mittelpunkt des Universums.

Sie hatte drei Söhne geboren, von denen nur der jüngste noch lebte – irgendwo weit weg, bei ihrer Schwester, in einer Gegend, in der Kriege nicht häufiger waren als der Wechsel der Jahreszeiten. Die beiden älteren Söhne waren ebenso wie ihr Mann, der Fürst und ehemalige Gesandte des Kaisers in Kalkutta, in einem der zahllosen Gefechte gefallen, irgendwo zwischen Panipat im Norden und Agra im Süden. Ihre vier Töchter waren mit edlen Männern vermählt und lebten ebenfalls nicht mehr im Palast.

Als mehrfache Großmutter und Witwe war Tamira über Schleier und andere Konventionen erhaben. Umfassende Bildung und in Kalkutta betrachtete, erwogene und teilweise angenommene Gepflogenheiten kamen hinzu.

Wenn die Kriegslage es erlaubte, ritt sie gern; als Saldanha sie eines Tages auf Gerüchte ansprach, denen zufolge sie einmal in Männergewändern an Hetzjagden teilgenommen habe, leugnete sie dies nicht. Mit achtundvierzig war sie fünf Jahre jünger als er, ebenso groß, und anders als die meisten ihrer Leidens-, Alters- und Geschlechtsgenossinnen hielt sie nicht viel davon, ihren Leib aufzublähen, indem sie Naschwerk hineinstopfte, dass die Bürde der Stunden besser zu ertragen sei.

Bei Wind und Wetter, Hitze und seltener Kälte erging sie sich auf den meilenlangen Wällen der Festung, eher stürmend denn wandernd. Mit einem alten Havildar der Leibgarde focht sie bisweilen stundenlang in einem kleinen Pavillon nahe der Kuppel des Mumtaz Mahal.

Ihre Hauptbeschäftigung aber waren Bücher. Solche, die sie mit Genuss oder Missbilligung las, und solche, die sie mit präzisen, vielfarbigen, ungeheuer detaillierten Miniaturen illustrierte. Sie kannte die arabischen, persischen und Mogul-Klassiker, und da sie Maratha und zwei oder drei andere Sprachen der nichtmoslemischen Inder beherrschte, war sie auch mit der Dichtung, den Epen und Sagen der jeweiligen Regionen vertraut. Sie verhalf Saldanha zu seiner eigentlichen Zuflucht.

Seine Pflichten, sofern ein unbezahlter Arzt Pflichten haben kann, waren geringfügig. Morgens, vor dem zweiten Gebet, wünschte der Kaiser gewöhnlich seine Berater und die wichtigsten Beamten zu sehen; Saldanha hatte anwesend zu sein, so war es vereinbart, und bisweilen nickte der Kaiser ihm zu, hin und wieder lächelte er sogar.

Wünsche, Klagen, Äußerungen über schlechte Träume oder Leibdrücken waren selten. Manchmal hatten andere Mitglieder des kaiserlichen Haushalts Beschwerden; bei solchen Gelegenheiten übernahm Tamira als nicht mehr den Regeln der Frauengemächer Unterworfene die Übermittlung von Befindlichkeiten der Damen des zenana.



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