Sie können aber gut Deutsch! by Lena Gorelik

Sie können aber gut Deutsch! by Lena Gorelik

Autor:Lena Gorelik
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: Pantheon Verlag
veröffentlicht: 2012-03-14T16:00:00+00:00


Das ungeplante Kapitel

Ein ungeplantes Kapitel ist so ähnlich wie ein ungeplantes Kind. Etwas passiert. Und plötzlich weiß man, dass sich so vieles geändert hat, noch mehr ändern wird, radikal ändern wird. Es ist Überraschung und Schock in einem, es bringt die Gedankenwelt komplett durcheinander, und man kann nichts dagegen tun. Man hat ein wenig Zeit, darüber nachzudenken, zu hadern, möglicherweise sich zu wünschen, es wäre nicht passiert, zu zweifeln, vielleicht sogar genug Zeit, um es erst einmal zu ignorieren und dann wieder zu grübeln. Aber irgendwann einmal kommt dann das Kind, und man kümmert sich darum, Schluss, aus. Oder wie im Falle dieses Kapitels: Man setzt sich hin und schreibt es auf.

Manche – insbesondere mein Mann – warfen mir seit Jahren naiven Optimismus vor angesichts meines Wir-Deutschlands, zu dem ich nicht weniger gehöre als mein seit Generationen schwäbischer blond-blauäugig-großer bester Freund. Zu dem auch die Frau aus dem Haus nebenan gehört, die nur Russisch spricht, aber während der WM eine Deutschland-Fahne auf dem Balkon hängen hatte. Und all die anderen auch.

Ich hielt und halte die WM-Deutschland-Euphorie nicht für die Lösung aller Integrationsprobleme und den Beweis dafür, dass die Deutschen ihre nationale Identität wiedergefunden hätten. Aber in meinem Deutschland lebten dennoch Wir, und morgens, wenn ich vom Spaziergang mit dem Hund zurückkam, bei dem ich die Menschen in meinem Viertel beobachtete, schrieb ich seit langer Zeit auf bunte Post-its auf, wer alles dazugehörte. »Die Frau mit dem Kopftuch, die ihren Sohn eilend, weil zu spät, zur Grundschule bringt. Er trägt ein FC-Bayern-Trikot«, konnte auf einem solchen Post-it stehen. Oder auch: »Die Frau mit dem reinrassigen und stylish geschorenen Mittelschnauzer, der unseren verwuschelten, schwarzen Mischling immer so anbellt, vielleicht, weil die Frau ihn schon so abschätzig anschaut. Ist der Mittelschnauzer ›von und zu‹ sich zu gut für unseren slowakischen Straßenköter?« Als ich das später wieder las, musste ich daran denken, dass der Hundetrainer, der versucht hatte, unseren schwarzen Vierbeiner von seinen Tiertötungsstationstraumata zu befreien, von Studien erzählt hatte, die zeigen, dass Menschen immer den schwarzen Hund für den schuldigen halten, wenn Hunde sich streiten. Vielleicht fängt Rassismus bei der Wahrnehmung von Hunden an.

Die Post-its schmiss ich alle in eine Schreibtischschublade, der Ordnung halber, vielleicht würde ich sie ja einmal verwenden können.

Mein Deutschland, das ich auf bunten Klebezetteln festhielt, war ein Wir-Deutschland, zu dem so viele unterschiedliche Menschen gehörten, die miteinander und mit mir nicht unbedingt etwas zu tun hatten, auch nichts zu tun haben mussten, aber doch zweifelsfrei ein Teil dieses Landes waren. Ich wollte mit ihnen reden, ihre Geschichten erzählen, ich wollte darüber schreiben, wie vielfältig und deshalb spannend dieses Deutschland ist.

Aber dann schrieb Sarrazin ein Buch.

Und ich schwor mir, nichts über ihn zu sagen und nichts über ihn zu schreiben, aus Gründen, die man so häufig in jenen Wochen gehört hatte von Menschen, die dann doch etwas über ihn sagten oder über ihn schrieben: Nichts Neues habe der Mann beigetragen, unsäglich, die Gen-Debatte, mit seinen Feststellungen eigentlich altbekannter Tatsachen spiele er in die falschen Hände, ein vermeintlicher Tabubruch sei kein Tabubruch, und so weiter und so fort.



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