Schattennacht by Dean R. Koontz

Schattennacht by Dean R. Koontz

Autor:Dean R. Koontz [Koontz, Dean R.]
Die sprache: deu
Format: epub
Tags: Grusel
veröffentlicht: 2011-11-21T23:00:00+00:00


25

Hätte die Kälte sich mir nicht in die Fußsohlen gebohrt wie spitze Nadeln, bis eine brennende Taubheit meine Zehen zusammenkrampfte, so hätte ich vielleicht gedacht, ich würde immer noch unruhig im Bett liegen und träumen. Leider erinnerte ich mich nur zu gut, wie mich das in den beschlagenen Fenstern meines Zimmers blitzende Licht der Polizeiwagen geweckt hatte.

Dennoch stellten die großen herabbaumelnden Bronzeklöppel, denen Leute wie Sigmund Freud bestimmt eine frivole Bedeutung zugewiesen hätten, und das Kreuzgewölbe der Glockenstube mit seinen Rundungen und Schatten die ideale Landschaft eines Traums dar. Dazu passte, dass sich ringsum das reine Weiß des eisigen Sturms ausbreitete.

Die minimalistische Gestalt des Todes in Kutte und Kapuze war nicht von Fäulnis oder Maden zerfressen wie in Comicbänden und billigen Splatterfilmen, sondern so makellos wie ein dunkler Polarwind und so real wie der Sensenmann in Ingmar Bergmans Das siebente Siegel. Zugleich besaß sie die Eigenschaften der in Albträumen auftretenden Phantome, die ebenso formlos wie bedrohlich wirken und am schärfsten aus dem Augenwinkel sichtbar sind.

Der Tod hob den rechten Arm, und aus dem Ärmel tauchte eine lange, bleiche Hand auf, nicht als Skelett, sondern mit Fleisch und Haut. Während es unter der Kapuze weiter leer blieb, streckte die Hand sich aus und deutete mit dem Zeigefinger auf mich.

Nun fühlte ich mich nicht mehr an Bergman erinnert, sondern an die »Weihnachtsgeschichte« von Charles Dickens. Dies war der letzte der drei Geister, die dem Geizhals Ebenezer Scrooge erscheinen und den dieser den »Geist der zukünftigen Weihnacht« nennt. Das ist die Gestalt auch, klar, aber sie ist noch etwas Wichtigeres, denn wo immer die Zukunft auch hinführen mag, letztendlich führt sie zum Tod, zum Ende, das in meinem und in eurem Anfang liegt.

Aus dem linken Ärmel erschien eine weitere bleiche Hand. Sie hielt einen Strick, dessen Ende zu einer Schlinge geknüpft war. Der Geist – falls es einer war – übergab die Schlinge von der linken in die rechte Hand und zog dann einen unglaublich langen Strick aus seiner Kutte.

Als endlich das lose Ende aus dem Ärmel gekommen war, warf er es über die Stange, von der die fünf Glocken in Gang gesetzt wurden, wenn man sie mit einer Handkurbel unten im Turm drehte. Dann schlang er so flüssig einen Galgenknoten, dass die Bewegung weniger an das Geschick eines erfahrenen Henkers als an die Fingerfertigkeit eines professionellen Magiers erinnerte.

Der ganze Vorgang erinnerte mich an Kabuki, jene stark stilisierte japanische Theaterform, über die ich allerhand gelesen habe. Angesichts der surrealen Kulissen, der kühn geschminkten Gesichter, der Perücken, der übertriebenen Emotionen und der melodramatischen Gestik der Schauspieler sollte eine Kabukivorführung eigentlich ebenso lächerlich sein wie eine Wrestling-Show. Auf Leute, die sich auskennen, wirkt sie jedoch auf mysteriöse Weise offenbar so real wie eine über den Daumen gezogene Rasierklinge.

Im Schweigen der Glocken, in dem der Sturm der gespenstischen Darstellung brüllend Applaus zu spenden schien, zeigte der Tod erneut auf mich. Damit war endgültig klar, dass die Schlinge für meinen Hals gedacht war.

Geister können den Lebenden keinen Schaden zufügen. Dies ist unsere Welt, nicht ihre.

Außerdem ist der Tod keine Gestalt, die kostümiert durch die Welt wandelt, um Seelen einzusammeln.



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