Offene Geheimnisse und andere Enthuellungen by Amelie Fried

Offene Geheimnisse und andere Enthuellungen by Amelie Fried

Autor:Amelie Fried [Fried, Amelie]
Die sprache: rus
Format: epub
Herausgeber: PeP eBooks
veröffentlicht: 2012-12-03T17:00:00+00:00


Am Wasser gebaut

Ist schon peinlich, aber was soll ich tun? Die Musik setzt ein, die Liebenden auf der Leinwand küssen sich – und ich fange an zu flennen. Oder: Das Zeichentrick-Tierbaby schaut mit großen Augen seiner Mutter nach, die von bösen Tierfängern abtransportiert wird – und schon bin ich in Tränen aufgelöst. Es reicht, dass die Geigen schluchzen, schon schluchze ich mit.

Meine Kinder weigern sich inzwischen, mit mir ins Kino zu gehen, weil sie es »endpeinlich« finden, dass ich immer mit roten Augen und geschwollener Nase wieder rauskomme. Tja, was sollen die Leute auch denken, wenn eine erwachsene, im Allgemeinen als durchaus tough geltende Frau heulend in »Dschungelbuch 2« sitzt, ganz zu schweigen von Filmen, die es darauf anlegen, einen zum Weinen zu bringen? Eine Packung Taschentücher ist da gar nichts. Dabei war ich doch auf einer Filmhochschule und weiß genau, wie man Emotionen erzeugt. Keine Chance, ich falle trotzdem darauf rein.

Sentimentale Kuh, könnten die Leute also von mir denken, und Recht hätten sie. Auf meiner Gefühlsklaviatur zu spielen ist ein Leichtes für jeden Filmregisseur oder Schriftsteller. Ich weine nämlich nicht nur im Kino, o nein, ich weine auch beim Lesen! Und noch Schlimmer: sogar beim Schreiben meiner eigenen Bücher! Wenn da was Trauriges passiert (die Liebenden verlieren sich, jemand stirbt), dann heule ich Rotz und Wasser über der Computer-Tastatur. Bei meinen öffentlichen Lesungen muss ich darauf achten, keine solche Stelle zu erwischen, denn egal, wie oft ich sie gelesen habe – ich heule jedes Mal wieder.

Keine Ahnung, warum ich so nah am Wasser gebaut habe. Eigentlich bin ich ein fröhlicher Mensch und eher mit der Fähigkeit zur Selbstironie gesegnet als mit der Neigung zu Selbstmitleid. Nichts ist mir mehr zuwider als Gefühligkeit und Pathos, die kitzeln unweigerlich die Zynikerin in mir hervor und lassen mich gelegentlich Witze reißen, für die ich mich hinterher schäme.

Und trotzdem. Bestimmte Schlüsselsituationen lösen unweigerlich den Flenn-Reflex bei mir aus. Zum Beispiel Beerdigungen: Ich muss noch nicht mal wissen, wer begraben wird, wenn die Musik traurig genug ist, heule ich mit, ich kann nicht anders. Ich könnte mich als Klageweib verdingen; bestimmt würde ich so heftig und ergreifend weinen wie niemand sonst. Nur schade, dass dieser Brauch in unseren Breitengraden nicht sehr verbreitet ist.

Aber auch erfreuliche Anlässe wie Hochzeiten bringen mich zum Weinen, und eigentlich könnte ich es richtig genießen, wenn ich endlich eine Wimperntusche finden würde, die wirklich wasserfest ist.

Wenn man’s genau betrachtet, gibt es ja eine Menge guter Gründe, zu weinen: Das Leben ist kurz, das Glück ist flüchtig, der Zustand unserer Welt lässt zu wünschen übrig, und bevor wir viel daran geändert haben, fahren wir schon in die Grube. Vielleicht würden wir alle viel, viel öfter weinen, wenn wir uns das immerzu klar machen würden. Weil wir so aber nicht leben könnten, sind wir insgeheim dankbar für die Anlässe, bei denen Tränen fließen dürfen, die einfach mal geweint werden müssen.

Schade nur, dass niemand mehr mit mir ins Kino geht. Alleine weinen ist nicht halb so schön wie in Gesellschaft. Meine Kinder haben signalisiert, dass sie mich vielleicht mal wieder mitnehmen würden, aber nur in einen Action-Film.



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