Nummer Zwei by Probst Claus
Autor:Probst, Claus [Probst, Claus]
Die sprache: deu
Format: epub
ISBN: 978-3-10-402635-0
Herausgeber: Fischer E-Books
veröffentlicht: 2014-05-14T22:00:00+00:00
17:55
Carmen Mingus hatte ihre neue Sekretärin eindringlich darauf hingewiesen, dass eine laufende Therapiestunde auf keinen Fall unterbrochen werden dürfe, es sei denn im Falle eines Brandes oder einer vergleichbaren Katastrophe. Dass es nun dennoch an die Tür klopfte, konnte daher nur bedeuten, dass außerhalb des Behandlungsraumes etwas Bemerkenswertes geschehen sein musste. Etwas, das keinen Aufschub duldete.
»Ja?«, rief sie so laut, dass man sie auch jenseits der geräuschgedämpften Tür hören konnte.
Die Tür öffnete sich einen Spalt weit und gab den Blick auf Rosas rundes Gesicht frei, welches erkennbar angespannt wirkte. »Entschuldigen Sie bitte die Störung. Aber hier draußen ist ein Mann, der Sie unbedingt sprechen möchte.«
»Aha«, sagte Carmen Mingus. »Hat dieser Mann auch einen Namen?«
»Vermutlich schon. Aber er hat sich geweigert, ihn mir zu nennen. Er ist unglaublich groß und … kräftig … sehr kräftig.«
Carmen Mingus überlegte, welcher ihrer Patienten Rosa derart in Angst und Schrecken versetzt haben könnte, dass ihre Stimme zitterte. Spontan fielen ihr nur zwei Personen ein, die dafür in Frage kamen. Davon war einer Soldat, und ein Soldat wäre vermutlich nicht stur genug, die Nennung seines Namens zu verweigern. Der zweite Mann schon. Ihn allerdings hatte sie seit Jahren nicht gesehen.
»Ist er tätowiert?«
»Ja, fast überall«, bestätigte Rosa ihren Verdacht. »Nur nicht im Gesicht.«
»Kleine rote Flammen am Hals?«
»Ja, genau.«
»Er soll warten. In fünf Minuten sind wir hier fertig.« Sie lächelte Rosa aufmunternd zu. »Keine Sorge. Er ist nicht ganz so gefährlich, wie er aussieht.«
Die Sekretärin schien ihr nur bedingt Glauben schenken zu wollen, schloss aber dennoch artig die Tür. Carmen Mingus wandte sich wieder ihrem Patienten zu, einem Mann Mitte vierzig, der sie abschätzend musterte.
»Wird es Ärger geben?«, wollte er wissen.
»Nein, nein«, versicherte sie schmunzelnd. »Sie müssen mich nicht beschützen.«
Sie wusste, was es ihm bedeuten würde. Ihr in einer Gefahrensituation beizustehen. Sie zu retten. Wenn es erforderlich wäre, hier und jetzt, würde er keine Sekunde zögern, sein Leben für sie zu opfern. Nicht ihr zuliebe, sondern um seiner selbst willen. Um aus der Ohnmacht auszubrechen. Um etwas wiedergutzumachen. Etwas, was sich nicht wiedergutmachen ließ.
Clemens Schroth war Polizist und hatte schon viel erlebt. Vor fünf Wochen hatte ihn die Einsatzzentrale nachts zu einer Studentenwohnung geschickt. Eine junge Frau war dort erhängt aufgefunden worden. Nicht sein erster Selbstmord. Als er die Stufen in den dritten Stock hinaufstieg, fühlte er sich innerlich vorbereitet. Malte sich den Anblick im Voraus aus, um gegen die Wirklichkeit gewappnet zu sein. Aber die Wirklichkeit ist erfindungsreich. Sie kennt üble Tricks. Als er vor der Tür der Wohnung stand, stutzte er kurz. Den Namen auf dem Klingelschild hatte er schon irgendwo gehört. Dann trat er über die Schwelle und er sah den Freund seiner Tochter, der ihm mit verweinten Augen ungläubig entgegenstarrte, und hinter ihm, an der Decke festgezurrt, baumelte noch immer die Tote: sein eigenes Kind.
»Wir können heute etwas früher aufhören, wenn Sie möchten«, ließ Schroth sie wissen.
Diese Genügsamkeit. Diese Geduld im Umgang mit einem Leben, auf das man eigentlich wütend einprügeln sollte.
Sie dachte an Manfred Gold, der draußen auf sie wartete. Sie war neugierig, und ihrem Patienten würde es ein gutes Gefühl geben, ihr einen Gefallen tun zu können.
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