Number 9 Dream by Mitchell David

Number 9 Dream by Mitchell David

Autor:Mitchell, David [Mitchell, David]
Die sprache: deu
Format: epub
Tags: Belletristik/Gegenwartsliteratur (ab 1945)
Herausgeber: Rowohlt E-Book
veröffentlicht: 2015-11-05T16:00:00+00:00


Später am Nachmittag gehe ich wieder nach unten. Im Gästezimmerschrank finde ich Bettzeug und Handtücher. Ich lege die Sachen auf die Stufen hinter der Lamellentür, damit der Eindringling mit etwas Glück die Treppe für einen Wäscheschrank hält. Dann sammle ich alles ein, was mir gehört, stopfe es in eine Plastiktüte und unter die Spüle. Ich muss die Spuren meines Hierseins beseitigen, noch während ich sie hinterlasse. Eigentlich müsste ich hungrig sein – wann habe ich zum letzten Mal gegessen? –, aber mein Magen ist anscheinend verschollen. Ich brauche dringend eine Zigarette, aber ich werde mich auf keinen Fall nach draußen wagen. Ein Kaffee wäre schön, aber es ist nur grüner Tee im Haus, und ich koche mir eine Kanne. Ich putze mir die Nase – mein Gehör kehrt zurück, aber meine Ohren gehen gleich wieder zu –, mache die Terrassentür auf und setze mich mit meinem Tee nach draußen auf die Stufe. Karpfen tauchen an die Wasseroberfläche und verschwinden wieder. Windspiele beugen sich, berühren aber nie den flüssigen Himmel. Ein Vogel mit rubinrotem Hals horcht nach Regenwürmern. Ich sehe den Ameisen zu. Zikaden summen muzzzmezzzmezzzmezzmezzmuzzzzzzzzz. Im ganzen Haus gibt es nicht eine Uhr, ja nicht einmal einen Kalender. Im Garten hängt eine Sonnenuhr, aber für klare Schatten ist es heute zu diesig. Meinem Gefühl nach müsste es ungefähr drei sein. Der Wind blättert durch den Bambus. Eine Mückensäule steht über dem Teich. Ich trinke langsam meinen Tee. Meine Zunge schmeckt nichts. Vor vier Wochen saß ich mit einer Proviantdose von Tante Orange auf der Morgenfähre nach Kagoshima. Ich war mir sicher, dass ich meinen Vater noch in derselben Woche finden würde. Und wen – oder was – habe ich stattdessen gefunden? Was für ein Reinfall, und erst die Folgen! Der Sommer ist dahin und vieles andere mit ihm. Das Faxgerät piept. Ich zucke zusammen, und der Tee schwappt über. Eine Nachricht von Buntaro: Er kommt um sechs vorbei, wenn der Verkehr nachlässt. Was bedeutet sechs in Relation zu jetzt? Stunden brauchen andere Stunden, damit sie einen Sinn ergeben. Über dem Faxgerät hängt in einem Muschelrahmen das Foto eines alten Mannes und einer alten Frau. Sie sind schätzungsweise in den Fünfzigern. Wahrscheinlich gehört ihnen dieses Haus. Sie sitzen an einem sonnigen Tag in einem schattigen Café. Er lacht gleich über etwas, das sie gerade gesagt hat. Sie mustert mich, um zu ergründen, ob mir ihre Geschichte wirklich gefallen hat oder ob ich nur höflich sein will. Eigenartig. Ihr Gesicht kommt mir bekannt vor. Ein vertrautes Gesicht, das sich nicht belügen lässt. «Du hast recht», sagt sie, «wir sind uns schon einmal begegnet.» Wir sehen uns eine Weile an, dann gehe ich zurück in ihren Garten, zu der kleinen Stelle, wo die Libellen ihr ganzes Leben zubringen.



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