Nation - Nationalität - Nationalismus by Jansen Christian; Borggräfe Henning

Nation - Nationalität - Nationalismus by Jansen Christian; Borggräfe Henning

Autor:Jansen, Christian; Borggräfe, Henning
Die sprache: deu
Format: epub
Tags: Geschichte/Allgemeines, Lexika
Herausgeber: Campus Verlag GmbH


3.5.4 Organisierter Nationalismus als politische Bewegung

Eine in der Forschung weitgehend unbeachtete Problematik ist die theoretische Einbindung der Nationalbewegungen und die Bewertung ihrer Rolle in den Nationsbildungsprozessen. Dieses Manko spiegeln die vorgestellten Theorien wider. Sie erklären den Nationalismus über große gesellschaftliche Veränderungen. Nationalistische Akteursgruppen werden zwar aufgeführt, aber Fragen zu ihrer sozialen Struktur, Stärke und tatsächlichen Rolle beim Aufkommen und der Durchsetzung des Nationalismus bleiben ungeklärt. Als einer der wenigen Nationalismusforscher hat Miroslav Hroch auf dieses Missverhältnis hingewiesen: »Bei dieser Betrachtungsweise kann man [...] nicht stehen bleiben. Wenn die Nation undenkbar ist ohne ihre Angehörigen, die sich ihre Nationalität bewusst machen, dann ist ihre Bildung undenkbar ohne die Aktivitäten der Menschen« (Hroch 2005: 109). Bereits in den 1960er Jahren bemühte sich Hroch, diesem Anspruch gerecht zu werden. Als erster präsentierte er mit seiner Studie Die Vorkämpfer der nationalen Bewegung bei den kleinen Völkern Europas eine vergleichende sozialgeschichtliche Analyse der Nationalbewegungen und entwickelte das bereits in der Einleitung angeführte Drei-Phasen-Modell (Hroch 1968).

Zur Bedeutung und Entwicklung der Nationalbewegungen, so Hroch in seiner jüngsten Publikation, lassen sich hinsichtlich ihres Verhältnisses zum Nationalstaat und ihrer Stellung im Modernisierungsprozess trotz des äußerst lückenhaften Forschungsstandes erste hypothetische Überlegungen formulieren. Hroch differenziert mit Bezug auf die Faktoren Nationalstaatlichkeit, industrielle und bürgerliche Revolution zwischen unterschiedlichen Typen nationaler Bewegungen. In Nationen, die wie Frankreich aus der Umgründung eines bestehenden Staates in einen Nationalstaat hervorgingen, entstand demnach keine Nationalbewegung. Nur dort, wo der Nationalstaat als Ziel propagiert wurde, konnte sich eine Bewegung entwickeln. Hroch differenziert zwischen »nationalen Einigungsbewegungen« (Deutsche, Italiener); bürgerlichen, auf Abspaltung zielenden »integrierenden Nationalbewegungen« (Norweger, Tschechen, Ungarn); »verspäteten Nationalbewegungen«, die sich erst in der konstitutionellen Phase abspalteten und tendenziell reaktionär agierten (Slowenen, Litauer); »Aufstandsbewegungen« (Serben, Griechen, Iren), welche bereits vor der Industrialisierung im Kampf Massenunterstützung erhielten; sowie »desintegrierten Bewegungen«, Abspaltungsversuchen aus bestehenden Nationalstaaten (Katalanen, Flamen, Waliser, Basken, Schotten) (Hroch 2005: 105 ff.).

Der soziale Hintergrund der nationalistischen Akteure lässt sich im Falle der Umgründung eines bestehenden Staates eindeutig benennen. In der Französischen Revolution agierte an der Spitze der Dritte Stand, die bürgerliche Klasse. In England verlief der Konflikt dagegen über eine längere Reformperiode zwischen Parlament und Monarchie. Die nationalistischen Akteure stammten sowohl aus dem Bürgertum als auch aus Fraktionen des Adels. Je nachdem, ob die Umgründung durch Revolution oder Reform erfolgte, dominierte das Bürgertum oder eine Koalition aus diesem und dem Adel. Die nationale Integration der Masse der Bevölkerung erfolgte in jedem Fall erst nach der Nationalstaatsgründung. Zu den Nationalbewegungen gehörten nach Hroch kaum Angehörige der herrschenden Eliten. An der Spitze standen Vertreter angesehener Berufe oder sozialer Gruppen. Hirschhausen und Leonhard heben demgegenüber hervor, dass auch in Osteuropa, namentlich im polnischen und ungarischen Nationalismus, Fraktionen des Adels eine zentrale Rolle spielten. Des Weiteren verweisen sie darauf, dass in Europa auch kleinbürgerliche und sogar bäuerlich geprägte Trägerschichten des Nationalismus existierten (Hirschhausen/Leonhard 2001: 29 f.). Die soziale Zusammensetzung nationalistischer Akteursgruppen bedarf einer genauen Analyse im Einzelfall.

Der von Hroch wie von den meisten Nationalismusforschern benutzte Terminus »Nationalbewegung« besitzt zwei zweifelhafte Implikationen. Zum einen suggeriert er, dass auch über den Bezug auf die Nation hinaus Einigkeit über die konkrete politische Umsetzung des Nationalismus geherrscht habe.



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