Namensmythologie by Alexander Schüller

Namensmythologie by Alexander Schüller

Autor:Alexander Schüller
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: Walter de Gruyter
veröffentlicht: 2017-02-15T00:00:00+00:00


6.4Siegfried Fischerle

6.4.1Von Fischerle zu Fischer

An einem sonnigen Nachmittag Ende Mai 1931 stirbt auf der Holzveranda des Gasthauses neben der Schönbrunner Gloriette Siegfried Fischerle, von seinem eigenen Schöpfer »totgeschrieben«. Fassungslos über diesen »Mord«, beklagt der Mörder anschließend seine Tat, obwohl er weiß, dass sie sich trotz aller Sympathie für die vielleicht faszinierendste Figur seines Romans (aus einem noch zu erläuternden Grund) nicht vermeiden ließ. Den ganzen Nachhauseweg über die Auhofstraße von Hietzing nach Hacking wiederholt Canetti, geradezu zwanghaft, immer wieder dieselben Worte: »›Er ist tot, er ist tot, er ist tot. Fischerle ist tot. Fischerle. Er ist tot, er ist tot, er ist tot.‹« – und schaut nicht nach links und nicht nach rechts, sodass er beinahe von einem Auto angefahren wird.1426

Ein langes Leben blieb Fischerle nicht nur im Roman verwehrt. Geboren (wie Canetti sich ausdrückte) wurde er ein knappes halbes Jahr vor seinem Tod, zu einer Zeit, als der Roman nach rasantem Beginn ins Stocken geraten war und Canetti eine neue Figur benötigte: als Begleiter des Büchermenschen durch die kopflose Welt. Kurz nach dem Jahreswechsel hatte er sie gefunden, ein Neuanfang auch für seinen Roman. Dieser Begleiter, der »Sancho Pansa meines Kien«, erfüllte Canetti nicht nur mit »Zärtlichkeit«1427, sondern er entwickelte sich zur »eigentliche[n] Zentralfigur« des zweiten Teils, »[…] die als gleichwertig neben die Figuren der Kienbrüder zu stellen ist.«1428 Es ist viel darüber spekuliert worden, woher Canetti die Anregung zu dieser Figur bekommen hat, die nur ganz oberflächlich dem Typus des »Arlecchino« aus der Commedia dell' arte entspricht1429. Er ähnele Buscon in Quevedos Roman, auch Lazarillo de Tormes, der wie er einen blinden Bettler ausbeute, zugleich sein Dienstherr1430; er sei eine »Spottgeburt zwischen Odradek und Oskar Matzerath«1431, seinem bedeutendsten literarischen Nachfahren; die Physiognomie erinnere an Moses Mendelssohn oder an Zwerg Nase1432. Das alles ist richtig und greift doch zu kurz. Denn aus einem für Das Augenspiel geschriebenen, aber unpublizierten Kapitel geht hervor, dass Canetti das Vorbild nicht in Büchern, sondern in der Wirklichkeit gefunden hatte1433:

Einige Monate zuvor hatte ich in einem Café in der Schönlaterngasse einen Schach spielenden buckligen Zwerg gesehen, er fiel mir durch seine intensiven Bewegungen nicht weniger auf als durch seinen Buckel. Er spielte rasch und heftig, seine Züge, die er, so schien es, schon lange im Kopf getragen hatte, sprangen ihm aus den Augen. Doch obwohl er immer gewann, blieb er stumm und winkte wortlos durch ein Nicken seiner langen Nase einen neuen Gegner herbei.1434

Die Parallelen zu Fischerle sind offensichtlich: der zwergenhafte Wuchs, der Buckel, das Schachspiel, die lange Nase. Der Zwerg im Café erinnerte Canetti allerdings auch an einen seiner ehemaligen Kommilitonen: den »wohlgestalteten krähenden Zwerg im Chemischen Laboratorium«1435, von dem er in Die Fackel im Ohr erzählt. Fischerles Krähen (I, S. 234, 243, 364 und 395) ist eine Reminiszenz an diesen Zwerg, der mit dem Schachspieler zu einer Figur verschmilzt. »Sie wurde lebensfähig durch den Namen, mit dem ich sie versah […].«1436 Diese Bemerkung bestätigt erneut, wie sehr Canettis Namengebungsverfahren dem mythischen Denken verpflichtet ist: Erst der Name ruft die Figur ins Leben.



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