Meine Lebensgeschichte by Lewald Fanny
Autor:Lewald, Fanny
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: (Privatkopie)
veröffentlicht: 2010-02-02T16:00:00+00:00
Dreizehntes Kapitel
Ein alter Vers sagt: »Ist am größten die Noth, ist Gott am nächsten der Demuth!« und ohne zu erörtern, in wie weit das letzte Prädikat in jener Zeit auf mich passen mochte, kamen mir damals, nach christlichen Begriffen, ein Trost und eine Quelle der Hoffnung recht eigentlich vom Himmel; denn sie wurden mir durch eine Todte, durch Rahel Varnhagen von Ense zu Theil, die im Jahre achtzehnhundert zweiunddreißig gestorben war, und deren Briefe, in ihrer ersten, für Freunde gedruckten Ausgabe, ich etwa zu Ende des Jahres vierunddreißig kennen lernte.
Es waren eine Offenbarung und eine Erlösung, die sich für mich durch die hinterlassenen Briefe dieser Frau vollzogen. Was den Menschen am tiefsten niederwirft, das ist die Vorstellung: ein Besonderes zu erleiden. Das gilt von allen Menschen und von allen Arten von Leid; denn der Mensch ist ein Gesellschaftswesen. Was er von Andern ertragen sieht, erträgt er leichter. Der Schrecken, der Verlust, den er mit Andern zu theilen hat, verlieren bis zu einem gewissen Grade ihre lähmende Gewalt und ihr niederwerfendes Gewicht für ihn. Große, allgemeine Leidenszeiten, wie die Epochen der Pest, wie die französische Schreckensherrschaft im vorigen Jahrhundert, und wie Kriegszeiten überhaupt, beweisen und bestätigen diese Erfahrung.
Was mir auch begegnet war, was ich Unbequemes, Peinliches, Schmerzliches zu ertragen und zu erleiden gehabt hatte, Rahel Levin hatte das Alles gekannt, hatte das Alles durchgemacht, hatte über Alles mit der ihr innewohnenden Kraft den Sieg davon getragen, und sich endlich an den Platz hinzustellen gewußt, an dem sie gefunden, was sie ersehnt: die Möglichkeit zu genießen und zu leisten nach dem eingebornen Bedürfniß ihrer Natur. Alles konnte ich ihr nachempfinden, bis in die kleinsten Züge ihres Wesens, bis in die verborgensten Falten ihrer Seele konnte ich ihr nachdenken, und überall fast hätte ich sagen mögen: das ist Fleisch von meinem Fleische, das ist Blut von meinem Blute. In jedem ihrer Jugendbriefe fand ich sie wieder, die Schilderung eines würdigen, liebevollen Familienlebens, das doch unter Umständen grade für den Einzelnen, durch dessen besondere Anlagen und Neigungen zu einer hemmenden Schranke, und allmählig zu einer Quelle von Leiden werden kann; Kränkungen, Herzeleid, Liebesschmerzen, den Drang nach freier Entwicklung, sie hatte das Alles gekannt, Alles durchlebt, Alles bestanden und überwunden durch das Festhalten an sich selbst und an der Wahrheit.
Wie durch meine erste Jugend mir der Denkspruch, welchen mein Lehrer Motherby mir in mein Stammbuch geschrieben, zu einem Compaß geworden war, mit welchem ich mich zurecht fand, wenn Etwas mich verwirrte, so traten jetzt einzelne Aussprüche von Rahel an dessen Stelle. In manchen Herzensbedrängnissen, in mancher Verlegenheit und Pein haben mich die Worte aufgerichtet: »Ich habe mich in der großen allgemeinen Weltnoth einem Gotte gewidmet; und so oft ich noch gerettet worden bin, so ist's der, der mich gerettet hat, die Wahrheit!« – Wenn ich, von den Vorurtheilen meiner Umgangsgenossen eingeengt, nicht wußte, ob das was mein Gefühl mich zu thun antrieb, mit den allgemeinen Schicklichkeitsregeln in Einklang zu bringen sei, und ob Diese und Jene sich herausnehmen würden, was mir unerläßlich dünkte, hielt ich
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